TV-Nachrichten in der Schweiz: „Das Wichtige des Tages“ ohne den Globalen Süden?

17. Oktober 2023 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Internationales, Qualität & Ethik • von

Nur etwa 10 Prozent der Sendezeit der wichtigsten Schweizer Nachrichtensendung entfällt auf den Globalen Süden, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt. Im August erschien bereits ein Beitrag über die Berichterstattung der österreichischen Zeit im Bild, hier folgen nun die Ergebnisse für die Tagesschau im SRF.

Abb. 1: Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder (bzw. politischen Entitäten) im Jahr 2022 in der Schweizer Tagesschau erwähnt wurden

Mit der Ankündigung, „das Wichtige des Tages“ in den Blick zu nehmen, begrüßt die Moderatorin Andrea Vetsch die Zuschauerinnen und Zuschauer der Tagesschau im SRF (Schweizer Radio und Fernsehen). Diese ist unangefochten die reichweitenstärkste Nachrichtensendung der Schweiz. Im Jahr 2022 verzeichnete sie im Durchschnitt einen Marktanteil von über 50 Prozent und gehört für zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer zu den zentralen Nachrichtenquellen des Tages. Dementsprechend wichtig ist die Frage, über welche geografischen Räume in der SRF Tagesschau berichtet wurde und insbesondere auch, über welche kaum bzw. gar nicht.

Für die vorliegende Untersuchung wurden 365 Sendungen (etwa 150 Stunden) der Tagesschau Hauptausgabe um 19.30 Uhr sowie als Ergänzung und Vergleichsmedium 42 Sendungen (ca. 55 Stunden) der soziopolitischen Talkshow Club im SRF ausgewertet.

Während die Nachrichten 2020 und 2021 von der Covid-Pandemie beherrscht wurden, wurde diese im Jahr 2022 vom Ukraine-Krieg und seinen Auswirkungen (z.B. im Energiesektor) als wichtigstes Nachrichtenthema abgelöst (Abb. 2). Insgesamt entfiel etwa ein Drittel der Sendezeit auf diesen Themenbereich.

Der Ukraine-Krieg hatte und hat zweifelsfrei höchst weitreichende menschliche, politische und sozioökonomische Auswirkungen in zahlreichen Bereichen. Im Jahr 2022 ereigneten sich allerdings auch eine Reihe von humanitären Krisen und Katastrophen im Globalen Süden, die nur auf sehr geringes mediales Interesse stießen.

Abb. 2: Verteilung der Sendezeit nach Themen in der SRF Tagesschau im Jahr 2022. Datenkurven für die Bürgerkriegsregionen Tigray und Jemen sucht man auf dieser Grafik vergeblich, da die Werte so gering sind, dass sie nicht angezeigt werden können.

In der Schweizer Tagesschau wurde diesen Ereignissen in der Regel nur wenig oder teilweise sogar keine Aufmerksamkeit gewidmet. Die geografische Verteilung der Beiträge zeigt, dass der Globale Norden die Nachrichten (siehe die Titelgrafik – Abb. 1) und auch die Topthemen dominierte. In der Tat entfielen im Jahr 2022 etwa 42 Prozent der Sendezeit der Tagesschau im SRF auf die Schweiz, 47,5 Prozent auf die anderen Staaten des Globalen Nordens und lediglich ca. 10,5 Prozent auf die Länder des Globalen Südens (Abb. 3) – in den Topthemen waren es sogar nur 6,5 Prozent.

Abb. 3: Geografische Verteilung der Sendezeit in der Schweizer Tagesschau im Jahr 2022

Ein einziger Bericht über den „tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts“

Ende des Jahres 2020 brach in der nordäthiopischen Region Tigray ein Bürgerkrieg aus, in den auch Eritrea verwickelt war und in deren Folge bis zum Waffenstillstand im November 2022 Schätzungen zufolge bis zu 600.000 Menschen starben. Im Januar 2023 wies die spanische Tageszeitung El País darauf hin, dass es sich bei dem militärischen Konflikt damit um den „tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts“ handelt. In der Schweizer Tagesschau, wie auch in anderen deutschsprachigen Medien, wurde er aber fast vollständig ausgeklammert. Während die SRF Tagesschau 2022 in etwa 113.315 Sekunden Sendezeit – also im Durchschnitt gut fünf Minuten je Ausgabe – über den Ukraine-Krieg berichtete, widmete sie dem Krieg in Äthiopien im gesamten Jahr lediglich einen Beitrag mit einer Länge von 150 Sekunden (Abb. 4).

Abb. 4: Sekunden Sendezeit in der Schweizer Tagesschau für ausgewählte Themen im Jahr 2022

Kein einziger Bericht über die „weltweit schlimmste humanitäre Krise“

Als „weltweit schlimmste humanitäre Krise“ stufen die Vereinten Nationen die Situation im Jemen ein, wo seit 2014 ein Bürgerkrieg zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung herrscht, in dem bis Ende 2021 schätzungsweise über 377.000 Menschen gestorben sind. Etwa Zweidrittel der Bevölkerung, mehr als 23 Millionen Menschen – darunter mehr als die Hälfte Kinder – sind bis heute auf humanitäre Hilfe angewiesen.

In der Schweizer Tagesschau wurde hierüber kein einziges Mal berichtet. Der Jemen wurde zwar kurz exkursorisch in drei Berichten erwähnt, aber mit keinem eigenständigen Beitrag bedacht, der die humanitäre Notlage thematisiert hätte.

Ergebnisse der soziopolitischen Talkshow Club im SRF

Die mediale Dominanz des Globalen Nordens und Vernachlässigung des Globalen Südens ist auch für die Diskussionssendung Club zu konstatieren. Von den 3.270 Sendeminuten des Jahres 2022 wurden etwa 1.165 der Ukraine gewidmet sowie ca. 320 Minuten der Corona-Pandemie und etwa 165 Minuten der Energiefrage. Demgegenüber wurde Äthiopien nur ein Mal (5 Sekunden) erwähnt (im Zusammenhang mit der Dürre, nicht mit dem Bürgerkrieg in Tigray) und der Jemen einige Mal in Exkursen oder Nebensätzen aufgezählt, die zusammen weniger als eine halbe Minute ausmachen. Beide Kriege wurden also praktisch nicht thematisiert und waren medial nicht existent.

Besonders erklärungsbedürftig erscheinen die Ergebnisse, da der Club im Juli und August eine vierteilige Sommerserie mit dem geografisch allgemein gehaltenen Titel „Krieg und Frieden“ ausstrahlte, in dem aber weder der Bürgerkrieg in Tigray noch im Jemen thematisiert wurden. Im Mittelpunkt der am 9. August 2022 ausgestrahlten vierten Sendung der Serie, die den Untertitel „Die Spuren des Krieges“ trug, standen der Ukraine-Krieg, der Genozid von Srebrenica in Bosnien und Herzegowina im Jahr 1995 sowie die aktuelle politische Lage in Belarus. Insgesamt verteilte sich die Sendezeit des Clubs zu 93 Prozent auf den Globalen Norden und 7 Prozent auf den Globalen Süden.

Vernachlässigung des Globalen Südens in deutschsprachigen Medien

Die Schweizer Tagesschau gehört zu der Gruppe der Medien im deutschsprachigen Raum, die nur etwa 10 Prozent ihrer Sendezeit für Nachrichten aus dem Globalen Süden verwenden, obwohl dort mehr als 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt (Abb. 5).

Dabei ist festzuhalten, wie sehr sich die geografischen Berichtschemata der Schweizer Tagesschau, der österreichischen Zeit im Bild (ZIB) 1 und der (auch bereits in den Vorjahren untersuchten) deutschen Tagesschau ähneln.

Abb.5: Sekunden Sendezeit im Jahresrückblick 2022 der Schweizer Tagesschau für ausgewählte Themen

Verantwortung der Medien

Das Interesse an Themen aus geografisch oder kulturell näherstehenden Gebieten ist menschlich und bis zu einem gewissen Grad verständlich. Die Dominanz der Themen des Globalen Nordens ist aber erschütternd erdrückend. In der Schweizer Tagesschau wurden dem tödlichsten Konflikt unserer Zeit, dem Bürgerkrieg in Tigray, wie erwähnt im gesamten Jahr lediglich 150 Sekunden gewidmet und der „weltweit schlimmste humanitäre Konflikt“ im Jemen sogar gar nicht behandelt. Demgegenüber berichtete die wichtigste Schweizer Nachrichtensendung z.B. 180 Sekunden lang über die Ohrfeige, die Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab (anschließend folgte ein 145 Sekunden-Beitrag über die Oscar-Ergebnisse). In ihrem in sieben Blöcken gesendeten, insgesamt etwa einstündigen Jahresrückblick nahm sich die Tagesschau dann wieder 65 Sekunden Zeit, um an den Vorfall zwischen den beiden US-Schauspielern zu erinnern, während für die Erinnerung an den Globalen Hunger (allerdings nur in Form des Ukraine-Getreides), 15 Sekunden aufgebracht wurde. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen bezeichnet Hunger als „das größte lösbare Problem der Welt“, das Thema gehört aber zu den in deutschsprachigen Medien konsequent und am stärksten vernachlässigten. Die Lage in den vom Hunger betroffenen Gebieten selbst wurde im Jahresrückblick gar nicht thematisiert, ebenso weder der Krieg in Tigray noch im Jemen (Abb. 6).

Abb. 6: Anteil des Globalen Südens, wo etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt, an den Nachrichten in den wichtigsten Nachrichtensendungen in der Schweiz, Österreich und Deutschland (Angaben in Prozent)

Das Desinteresse an den beiden Bürgerkriegsländern zeigt sich auch in der Statistik von SRF News Spezial: Zur Corona-Pandemie wurden im Jahr 2022 zwölf Sondersendungen ausgestrahlt, zum Ukraine-Krieg elf, zu den Kriegen in Tigray und im Jemen dagegen keine.

Wenn sich die Schweizer Tagesschau für den gesamten Globalen Süden ohne die sog. MENA (Middle East North Africa)-Region etwa nur so viel Sendezeit nimmt wie für ihre Sportbeiträge und wenn nur ein Bruchteil dieser Zeit für ein so drängendes Problem wie den Globalen Hunger aufgebracht wird, dann ist die Ausgewogenheit der Berichterstattung in Gefahr, es droht eine mediale Blindheit für Themen des Globalen Südens.

Medien fällt eine große Verantwortung zu. Sie tragen in hohem Maße dazu bei, welcher soziopolitische Wissens- und Bewusstseinshorizont sich bei ihren Rezipientinnen und Rezipienten herausbildet. Medien sind nicht nur diskursdeskribierend, sondern sie sind auch diskurskonstituierend. Sie beschreiben nicht nur, worüber diskutiert und nachgedacht wird, sondern bestimmen dies mit und haben damit auch entscheidenden Einfluss darauf, welche Themen politisch behandelt und möglicherweise auch gelöst werden können. Umso wichtiger ist es, dass der Wert von Nachrichtengeschehen nach ihren menschlichen Dimensionen und nicht nach ihrem geografischen Standort beurteilt wird.

Eine Langfassung der vorliegenden Untersuchung kann hier eingesehen und heruntergeladen werden, eine Videozusammenfassung gibt es  hier. Die dieser Untersuchung vorausgehende Ausgangsstudie Vergessene Welten und blinde Flecken, in der unter anderem über 5.000 Ausgaben der deutschen Tagesschau ausgewertet wurden, sowie verschiedene Ergänzungsanalysen zu deutschsprachigen Medien, stehen kostenlos  unter www.ivr-heidelberg.de zur Verfügung. Auf der Seite finden sich auch Videozusammenfassungen, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Wanderausstellung.

Alle Abbildungen von Ladislaus Ludescher.

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