Publizistische Vielfalt ist bedroht

30. Oktober 2018 • Forschung aus 1. Hand, Medienpolitik, Qualität & Ethik • von

In den Schweizer Medien werden immer öfter dieselben Inhalte verbreitet. Dies zeigt ein automatisierter Textvergleich, den das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich im Rahmen seines neunten Jahrbuchs „Qualität der Medien – Schweiz“ durchgeführt hat.

Die abnehmende publizistische Vielfalt ist auch im kürzlich erschienen Jahrbuch „Qualität der Medien – Schweiz“ ein großes Thema, und zwar auf mehreren Ebenen. Zum ersten Mal wurde nicht bloß die Anbieter-Vielfalt oder die Vielfalt der Berichterstattung innerhalb eines einzelnen Mediums analysiert, sondern systematisch die Vielfalt der Berichterstattung innerhalb von redaktionellen Verbundsystemen. Ähnlich wie in Deutschland, wo sich der Trend zu „Zentralredaktionen“ etwa bei den Medienhäusern Funke oder Madsack und Dumont zeigt, haben auch in der Schweiz die redaktionellen Kooperationen in den letzten Monaten stark zugenommen. Das größte private Medienhaus Tamedia betreibt seit Anfang Jahr eine zentrale Redaktion in der Deutschschweiz für Tageszeitungen und Newssites wie den Tages-Anzeiger aus Zürich oder die Berner Zeitung aus Bern (und bald auch für die Basler Zeitung, die dem SVP-Politiker Christoph Blocher abgekauft wird). Eine zentrale Redaktion betreibt Tamedia auch in der französischsprachigen Westschweiz. Auch die Konkurrenten von Tamedia legen Redaktionen zusammen. Im Oktober 2018 startete „CH Media“, ein Zusammenschluss der NZZ Mediengruppe aus Zürich mit AZ Medien aus Aarau. Beide Medienorganisationen bringen dort ihre Regionalmedien ein; eine gemeinsame Mantelredaktion entsteht für die überregionalen Inhalte in der Luzerner Zeitung oder dem St. Galler Tagblatt (beide NZZ Mediengruppe) und für die Aargauer Zeitung oder die Basellandschaftliche Zeitung (beide AZ Medien), während die lokalen Inhalte weiterhin eigenständig produziert werden sollen.

Immer mehr identische Meinungen

Positiv ist, dass in der Schweiz auch dank solcher Titel viele Regionen immer noch ein tagesaktuelles mediales Angebot haben und die Gefahr von „news deserts“ nicht gleich ausgeprägt ist wie beispielsweise in den USA. Auch ist die Qualität des Angebots in diesen einzelnen Titeln nach unseren Qualitätsmessungen noch intakt. Gerade die lokalen Teile werden noch selber produziert, so dass nicht von „Zombie-Zeitungen“ gesprochen werden kann, wie etwa die in ein Mantelsystem eingebundene „Westfälische Rundschau“ in Deutschland von einer Gewerkschaft bezeichnet wird. Doch die zunehmenden redaktionellen Kooperationen in der Schweiz befeuern ganz klar auch eine negative Entwicklung. Das von uns eingesetzte automatisierte Textvergleich-Verfahren suchte systematisch nach Beitrags-„Zwillingen“ (resp. „Drillinge“, „Vierlinge“ etc.), die dann auf der Grundlage des Jaccard-Koeffizienten bestimmt wurden (n = 8936 Beiträge). So zeigt sich, dass gerade im demokratiepolitisch besonders sensiblen Bereich der nationalen Politikberichterstattung bereits 54% der Beiträge in mindestens zwei der 19 untersuchten Zeitungen gleichzeitig erscheinen. Das liegt nicht einfach an der Praxis, die Berichterstattung mit (ähnlichen) Agenturmeldungen zu betreiben, sondern ist auch eine direkte Folge der redaktionellen Verbundsysteme. Denn die Anteile geteilter Beiträge zwischen Medien aus dem gleichen Verbund sind sehr hoch. Ein Beispiel: Der Tages-Anzeiger, der Bund und die Berner Zeitung zählen seit diesem Jahr zur neu geschaffenen Deutschschweizer Zentralredaktion von Tamedia. (Der Bund und der Tages-Anzeiger hatten schon vorher teilweise zusammengearbeitet.) Nach Einführung der neuesten Kooperation steigen die Anteile geteilter redaktioneller Beiträge in diesen drei Zeitungen um 17 Prozentpunkte auf aktuell 55%. Innerhalb von meinungsbetonten Formaten wie Leitartikeln oder Kommentaren sind die Anteilswerte an identischer Berichterstattung sogar von 40% auf ganze 68% gestiegen. Für die Schweiz ist das insofern nochmals brisanter und demokratiepolitisch heikler, als mehrere Male pro Jahr Volksabstimmungen stattfinden. Stimmbürger aus verschiedenen Regionen werden also vor diesen Abstimmungen vermehrt mit denselben Empfehlungen konfrontiert. Die Gefahr einer gleichförmigen Berichterstattung inmitten einer zunehmenden Medienkonzentration ist klar gestiegen.

Anteil geteilte Beiträge // Quelle: Automatisierte Text-Vergleich-Analyse (fög). Datenbasis: 19 Schweizer Tageszeitungen, 6 Stichprobentage zwischen 1.1.2017 und 31.3.2018 (n = 8963)

 

Berichterstattungsqualität trotz Vielfaltsverlust noch hoch

Wie üblich, stellt das Jahrbuch auch die Qualität des medialen Angebots auf den Prüfstand. Es bestätigt sich: Über die 66 untersuchten Informationsmedien betrachtet, bleibt die Berichterstattungsqualität in der Schweiz noch relativ hoch. Eine komplementär durchgeführte Umfrage im Rahmen des Medienqualitätsratings belegt zudem, dass die Schweizerinnen und Schweizer vielen Medientiteln eine gute Qualität bescheinigen und generell die Qualität der einzelnen Titel ähnlich einschätzen, wie dies die Inhaltsanalysen zeigen. Klar wird aber auch, dass rund ein Drittel aller Medien die Qualität im Vorjahresvergleich nicht halten kann. Einbußen zeigen sich in der Vielfaltsdimension (weniger vielfältige Mischung von Themen und Perspektiven), aber auch bei der Einordnungsleistung. Der Ressourcenabbau in der Schweizer Informationspublizistik zeigt Wirkung – nicht überraschend angesichts der Tatsache, dass zwischen 2011 und 2016 fast ein Fünftel der Stellen im Bereich Online- und Pressemedien verloren gegangen ist, während der PR-Sektor auf der anderen Seite substantiell gewachsen ist.

News-Deprivierte zeigen niedrige Zahlungsbereitschaft

Der Informationsjournalismus ist neben dem Problem des Ressourcenabbaus auch mit dem Problem des schrumpfenden Publikums konfrontiert. Es gibt zwar verschiedene typische Nutzergruppen in der Schweiz und die Intensivnutzer beispielsweise greifen sehr häufig auf Informationsmedien zurück. Doch sie sind mit ungefähr zehn Prozent klar in der Minderheit. Dafür nimmt seit 2009, dem Startjahr der Untersuchung, die Gruppe der sogenannten „News-Deprivierten“ stetig zu und steigt sogar zur stärksten Nutzergruppe in der Schweiz auf (36%). Unter den 16- bis 29-Jährigen sind es sogar 53%. Das Publikum, das zu diesem Mediennutzungstyp zählt, konsumiert wenig News und wenn, dann in qualitätsschwachen Informationsmedien, vorab via Social Media. Die befragten News-Deprivierten geben an, dass sie sich wenig für Politik und Wirtschaft, dafür für Fitness und Ernährung und für Musik und Film interessieren. Da die Zahlungsbereitschaft unmittelbar mit dem Newsinteresse verknüpft ist, legt mit den News-Deprivierten genau jene Gruppe am meisten zu, die am wenigsten gewillt ist, für Informationspublizistik zu bezahlen.

Anteil News-Deprivierte //  Quelle: fög und GfK Switzerland; Publikumsbefragung: 3.400 Online-Interviews pro Jahr in der Deutschschweiz und in der Suisse romande

 

Neues Mediengesetz: Vorschläge gehen nicht weit genug

Solche Resultate kommen zu einer Zeit, in der in der Schweiz weiterhin intensiv über Medienpolitik debattiert wird. Nachdem Anfang 2018 die stark beachtete „No Billag“-Initiative abgelehnt worden ist, die zur Abschaffung der Rundfunkgebühren geführt hätte, wird aktuell ein neues Mediengesetz diskutiert. Der von der Regierung vorgelegte Gesetzesentwurf sieht vor, dass der öffentliche Rundfunk stärker digitale Angebote entwickeln soll und dass im neu auch private Onlineanbieter gefördert werden können – allerdings nur solche, die primär „audio-visuelle“ Inhalte anbieten, und dies unterstützt nur mit bescheidenen Mitteln. Unsere Befunde legen nahe: Vor dem Hintergrund, dass sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung vom Informationsjournalismus abwendet, dass dem professionellen Informationsjournalismus ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell fehlt und dass unvermindert finanzielle und personelle Ressourcen wegbrechen, gehen die Vorschläge zum Ausbau der Medienförderung im neuen Bundesgesetz über elektronische Medien (BGeM) nicht weit genug. Die Chance, den (digitalen) Journalismus nachhaltig zu stabilisieren, wird so verpasst. Das ist auch ein Grund, warum wir und mehrere andere Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, den Medien und der Kultur uns organisiert und die Möglichkeit genutzt haben, im Rahmen des in der Schweiz üblichen „Vernehmlassungsverfahrens“ offiziell zum Gesetz Stellung zu nehmen. Erstens sollten journalistische Onlineangebote generell gefördert werden können, also nicht nur solche, die sich auf audiovisuelle Inhalte spezialisieren. Zweitens müssen mehr Gelder für die direkte Medienförderung für private Medienanbieter vorgesehen werden, damit der publizistische Vielfaltsschwund in der Schweiz wirksam aufgehalten werden kann. Damit genügend Mittel für den öffentlich finanzierten Rundfunkanbieter SRG und für die direkte Medienförderung zur Verfügung stehen, ist drittens die absolute Summe der Medienabgabe genügend hoch anzusetzen und darf in den Folgejahren nicht weiter gesenkt werden. Und viertens ist darüber nachzudenken, wie globale Tech-Intermediäre bzw. Onlineplattformen zur Finanzierung der schweizerischen Medienförderung beitragen können, zum Beispiel mit einer Werbesteuer.

Die anstehenden offiziellen Antworten der Behörden und die darauffolgenden Debatten im Parlament werden zeigen, ob überhaupt und inwieweit solche Interventionen aus der Wissenschaft die Diskussion nachhaltig bereichern können. Für die Qualität und die Zukunft des Journalismus wäre es zu hoffen. Zumindest für das Wachsen einer „Allianz der Aufklärung“ könnte der gemeinsame Austausch und das gemeinsame Handeln zwischen Wissenschaft und journalistischer Praxis im Kontext dieser medienpolitischen Diskussion so oder so einen weiteren Beitrag leisten.

Das ganze Jahrbuch sowie verschiedene in Kurzform aufbereitete Analysen können auf www.qualitaet-der-medien.ch kostenlos heruntergeladen werden.

 Bildquelle: pixabay.de 

 

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