In Zeiten des Zeitungssterbens konzentrieren sich Printmedien zunehmend auf die Bereiche, in denen sie der Konkurrenz durch Internet und Rundfunk (noch) einen Schritt voraus sind. Globale oder nationale Nachrichten kennen Zeitungsleser schon längst, wenn die nächste Ausgabe erscheint. Für aktuelle lokale Themen ist aber meist noch immer die Lokalzeitung die erste Quelle. Einige Verlage rücken das Lokale daher immer stärker in den Vordergrund und machen es zur Priorität – sogar im Mantelteil.
In den Ruhr Nachrichten, die in Dortmund und acht umliegenden Städten erscheinen, setzt das Medienhaus Lensing lokale Nachrichten nun auch auf die Titelseite. Über überregionale Themen wie Bundespolitik sind die Leser meist schon aus Radio, Fernsehen und Internet informiert, wenn sie morgens die Tageszeitung aufschlagen. Was die Ortsunion der CDU vom Koalitionsvertrag hält, steht aber nicht schon in anderen Quellen – und ist damit auch als Aufmacher für Seite 1 des Mantels denkbar.
Die Ruhr Nachrichten, die nach der Schließung der Westfälischen Rundschau die einzige Tageszeitung im Verbreitungsgebiet sind, wollen weg vom „Servicejournalismus“, der hauptsächlich Termine ankündigt und darüber berichtet. Jens Ostrowski, Chief Content Officer bei den Ruhr Nachrichten, erklärt: „Wir brauchen zielgruppen-relevante Themen, die weniger nachrichtlich, sondern hintergründig und unique sind.“
Der Bericht über die Platzierungen beim sprichwörtlichen Kaninchenzüchterverein verliert dadurch keinesfalls seine Berechtigung, er reicht aber nicht aus, um Leser an das Produkt zu binden und auch die jüngere Zielgruppe zu erreichen. Dafür, so Ostrowski, braucht es eine deutliche Entwicklung auf sowohl der Inhalts- als auch der Verbreitungsebene:
„Die große Aufgabe für uns liegt darin, die digitale Transformation offensiv und ernsthaft im Haus voranzutreiben, dafür die Lokalredaktionen in den Mittelpunkt einer inhaltlichen Offensive zu stellen, von der Print- zur Content-Redaktion zu werden und in Digitalspezialisten wie Produktentwickler, SEO-Optimierer und Datenanalysten zu investieren, mit deren Hilfe bezahlter Lokaljournalismus möglichst viele Menschen in der Region erreicht.“
Der Medienforscher Horst Röper vom Dortmunder Institut FORMATT beobachtet seit zwei Jahrzehnten die Entwicklungen im Journalismus. Als aktuell größte Herausforderungen für die Lokalpresse sieht er den Abbau von Stellen, Funktionskopplungen, mehrmediales Arbeiten sowie Stress durch Forderung und Überforderung. Dies können Redaktionen seiner Meinung nach nur auffangen, wenn sie „eigenständig agieren“. Dazu gehöre, dass die Themenfindung nicht allein über Polizei- Pressemitteilungen laufe. Beiträge sollten „eigenständig und hintergründig“ sein, anstatt nur auf News-Facts zu beruhen. Im Arbeitsalltag, so Röper, ist dies aber nicht immer leicht umzusetzen: „Das bedeutet Recherche und das wiederum Zeit und Man-Power. Dies gestaltet sich schwierig für viele Lokalredaktionen, weil sie mit reduziertem Personal arbeiten müssen (Zeitungen) oder nie viel Personal hatten (lokale Onlineportale).“ Diejenigen, die es sich personell leisten könnten, sollten außerdem noch eine Stufe näher an die Menschen herangehen: „Auch Sublokales, also rein in die Stadtteile. Das machen einige wieder stärker, etwa der Berliner Tagesspiegel oder auch die Ruhr Nachrichten.“
Lokale Themen sollen nach der neuen Strategie der Ruhr Nachrichten intensiv als Hintergrundthemen aufgearbeitet werden. Diese werden nun von der neuen „Lensing Content Agentur“ (LCA) im Baukastenprinzip geliefert: Die Agentur produziert Artikelvorlagen zu Themen, die für alle Lokalredaktionen interessant sein sollen. Diese „Förmchen“ sollen dann von den Lokalredakteuren mit Informationen und Stimmen aus ihrer Stadt angereichert werden – am besten jeden Tag. Jens Ostrowski erklärt das Prinzip an einem Beispiel:
„Düsseldorf verabschiedet das verschärfte Glücksspielgesetz, zwischen Spielhallen in den Städten müssen künftig mindestens 350 Meter Abstand liegen. Die LCA recherchiert die Landesebene, Hintergründe des Gesetzes, spricht mit Landespolitikern und Experten. Die Lokalredaktion ergänzt den Text mit einem Blick auf die lokale Situation, zitiert Spielhallenbetreiber und die Kommune.”
Am Ende käme dabei eine “hochwertige Berichterstattung heraus, an der die Lokalredaktion den kleineren Anteil besitzt und dadurch mehr Zeit für ganz sublokale Recherchen gewinnt. Bis vor wenigen Monaten hätten in diesem Fall bis zu neun Lokalredaktionen die gleiche Recherche angestoßen, um das Spielhallen-Thema lokal herunter zu brechen. Diese Ressourcen können wir im Transformationsprozess jetzt dringender gebrauchen.“
Überregionale kapern den lokalen Markt
Studien wie zum Beispiel „Vertrauensgut lokale Medien? Strukturen und Charakteristika lokaler medialer Öffentlichkeit in Nordrhein-Westfalen“ von Wiebke Möhring (2017) beweisen: Lokale Nachrichten sind den Lesern extrem wichtig. „Im lokalen Kommunikationsraum kann am besten das menschliche Bedürfnis befriedigt werden, gesellschaftliche Komplexität zu reduzieren“, so Möhring. Sie seien außerdem wichtig für die Entwicklung einer lokalen Identität, für die Kommunikation vor Ort und schlicht zur Unterhaltung. Diese Informationen haben sich auch einige überregionale Medien zu Herzen genommen und eigene Redaktionen für lokale Themen gegründet. Bei der Zeit wurde zur Bundestagswahl 2017 das Sonderressort #D17 gegründet. Darunter fiel auch das Projekt „Überland“, bei dem sieben Lokalreporter aus verschiedenen Teilen Deutschlands Geschichten beitrugen, die Menschen an ihren Heimatorten bewegten, auch wenn sie bundesweit nicht diskutiert wurden. Als „Heimatreporter“ sind Zeit-Redakteure außerdem in ihre Herkunftsorte gefahren und haben von dort berichtet.
Auch Focus Online wagte sich 2017 auf den lokalen Markt, um sein Angebot zu erweitern und Informationsgiganten wie Google oder Facebook den Kampf anzusagen. Anstatt auf eigene Produktionen setzt das Unternehmen allerdings lieber auf die Weiterverwendung von Polizei- und Pressemeldungen sowie auf Kooperationen mit anderen Medienhäuser. In einer Testphase wurden bereits Artikel des Kölner Express (Verlag DuMont) auf Focus Online verbreitet. Außerdem sollen die Leser mobilisiert werden: „Wie Sie in vier Schritten Lokal-Reporter werden können“ wird seit August 2017 auf der Website erklärt. Das Publikum soll sich in einem Portal registrieren und dann selbst Texte und Fotos beitragen, die nach einer Prüfung durch die Redaktion veröffentlicht werden – partizipativer Journalismus als Schlüssel zum lokalen Lesermarkt?
Dennoch sieht Horst Röper in derartigen Bestrebungen von Zeit oder Focus Online keine Konkurrenz für Ruhr Nachrichten und Co. Es gebe, so betont er, bedeutende Unterschiede zwischen der Regionalberichterstattung bei großen Medien und der beiden Lokalzeitungen: „Selbst, wenn sich die ‘Großen‘ wie die Zeit ins Regionale aufmachen, stellen sie keine Gefahr für die etablierten Lokalmedien dar. Lokal sind sie ohnehin meist nicht, sondern eher subregional.“
Das Internet als Allheilmittel?
Selbst Facebook hat das Lokale offenbar als möglicherweise lohnendes Geschäft erkannt: Aktuell wird der Feed „Today In“ in der Facebook-App getestet, der den Nutzern unter anderem Nachrichten und Veranstaltungshinweise aus ihrer Region liefert. Anstatt ihnen neues Kopfzerbrechen zu bereiten, könnte dies für die Produzenten von Lokalnachrichten sogar eine Chance auf mehr Aufmerksamkeit sein und ihnen ein paar zusätzliche Klicks einbringen.
Ist das Internet also der Schlüssel, mit dem sich der Lokaljournalismus den Zugang zum lokalen Publikum freihalten kann? Der stellvertretende Leiter des Lokaldesks bei den Kieler Nachrichten, Robert Michalla, der in seinem Blog die tägliche Praxis reflektiert, betont in einem dort veröffentlichten Beitrag:
„Um als Lokalberichterstatter überleben zu können, braucht es mehr, als sich allein auf die steigende Relevanz von Lokalnachrichten zu verlassen. Es braucht vor allem Qualität. Online und offline.“
Denn während das Lokale den überregionalen Medien nur als ein weiteres Standbein dient, ist es für Lokalmedien die Lebensgrundlage. Verlage haben verschiedene Strategien, um ihre Leser an sich zu binden. Und Onlinejournalismus bedeutet weit mehr, als dieselben Texte, die sonst gedruckt werden, hochzuladen.
„So lange sich eine Lokalredaktion als Zeitungsredaktion versteht, die auch online irgendwie mitmacht, werden unsere Ziele schwer erreichbar sein“, sagt Ostrowski. Vielmehr bräuchten die Ruhr Nachrichten „Themen, die auf jüngere Zielgruppen abzielen und für sie so überraschend, nutzwertig und/oder unterhaltsam aufbereitet sind, dass die Leser bereit sind, dafür zu zahlen.“ Um diese Veränderungen in den Arbeitsalltag der Lokalredakteure zu bringen, seien Teams aus der Chefredaktion während des gesamten Jahres 2018 in den verschiedenen Lokalredaktionen unterwegs, um dort gemeinsam Arbeitsstrukturen und Konzepte zu entwickeln. „Bei der täglichen Themenentwicklung dreht sich dann alles um diese eine Frage: „Welchen echten Benefit können wir unserer digitalen Zielgruppe 35 bis 50 Jahre mit dieser Geschichte bieten?“, so Ostrowski.
Egal, wie sich die Arbeitsbedingungen für Journalisten verändern und wie Redaktionen und Medienhäuser versuchen, einen finanziell lohnenden Zukunftsweg zu bringen – laut Wiebke Möhring bleiben die essentiellen Aspekte, die die Qualität eines Mediums ausmachen, immer dieselben. So ist es vor allem wichtig, sich das Vertrauen der Leser zu bewahren und traditionelle journalistische Tugenden wie Richtigkeit, Relevanz, Aktualität, Vielfalt und Unabhängigkeit bei aller Modernisierung nicht aus den Augen zu verlieren.
Bildquelle: Johanna Mack
Schlagwörter:Focus Online, Horst Röper, Jens Ostrowski, Lokaljournalismus, Ruhr Nachrichten, ZEIT