Einblicke in die neue Normalität

24. März 2021 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Die Corona-Krise hat sowohl das ukrainische Gesundheitssystem als auch die ukrainische Wirtschaft unter enormen Druck gesetzt. Ohne Journalisten fänden die um Leben kämpfenden Mediziner und marginalisierte Gruppen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Vor allem Fotojournalisten sind am Puls der Zeit. Sie erzählen hier, wie sich ihre Arbeit während der Pandemie verändert hat.

Momentaufnahme aus einem ukrainischen Krankenhaus während der Corona-Pandemie. Foto: Mstyslav Chernov

Die Ukraine bestätigte ihren ersten Coronavirus-Fall am 3. März 2020. Am 11. März führte die Regierung Quarantänemaßnahmen ein. Von diesem Moment an begannen die ukrainischen Medien, ihre internen Prozesse neu zu konfigurieren und anzupassen.

Volodymyr Petrov arbeitet seit sechs Jahren als Fotoreporter bei der Wochenzeitung Kyiv Post. Gleich zu Beginn der Covid-19-Pandemie verfolgte Petrov die Entwicklungen in China und hielt Kontakt zu ausländischen Kollegen. Dies gab den Mitarbeitern seiner Zeitung eine Vorstellung davon, was zu erwarten war, und half ihnen, sich auf den bevorstehenden Lockdown vorzubereiten. 

Volodymyr Petrov bei einem seiner Einsätze während der Pandemie in Kiew. Foto: zur Verfügung gestellt von Volodymyr Petrov

Laut Volodymyr hatte die Pandemie große Auswirkungen auf jene Medien und Redaktionen, die sich hauptsächlich auf Breaking News verlassen und denen es oft an Originalität oder Tiefe fehlt. Gleichzeitig gab die Krise den Medienschaffenden aber auch die Chance, ihre Herangehensweise an die Berichterstattung zu überdenken. Volodymyr sagt: „Der Nachrichtenfluss ist ziemlich seicht geworden. Es gibt jedoch eine Nachfrage nach originellen Geschichten. Es gibt Raum, um etwas Neues zu erfinden, das für das Publikum interessant ist.”

Während der Pandemie führte seine Zeitung die Drohnenfotografie ein. Die Mitarbeiter wurden darin geschult, die neue Ausrüstung zu bedienen und sie für ihre Berichterstattung einzusetzen.

Ein Paar, das beschloss, die Vermählung nicht zu verschieben und während der Pandemie zu heiraten. Foto: Volodymyr Petrov

Herausforderungen in der neuen Normalität

Stas Kozljuk, der seit 2012 als Foto- und Textreporter arbeitet, war neun Jahre lang beim Magazin Ukrainian Week beschäftigt, wurde aber mitten in der Corona-Krise entlassen.

Stas beschloss daraufhin, einige eigene langfristige Projekte zu verfolgen. So erstellte er zum Beispiel einen Longread mit einer Reihe von Fotografien, in dem er aufzeigt, wie sich das Leben von Obdachlosen während der Pandemie verändert hat.

Reporter Stas Kozljuk arbeitete einen Monat lang an der Geschichte von wohnungslosen Menschen in Kiew. Foto: zur Verfügung gestellt von Stas Kozljuk

„Für diese Reportage habe ich auch die Lebensmittelausgabestellen fotografiert. Mich hat die Geschichte einer älteren Frau beeindruckt. Sie hat eine Wohnung, aber aufgrund der Krise hat sie so wenig Geld, dass sie 12 Kilometer zu einer kostenlosen Kantine laufen muss, nur um zu essen“, erzählte Stas.

Mstyslav Chernov arbeitet seit 2014 für die Agentur Associated Press. Zusammen mit Evgeniy Maloletka und Yuras Karmanau produzierte er eine Multimedia-Reportage über den Covid-19-Ausbruch in der Ukraine und darüber, wie unvorbereitet das Gesundheitssystem war.

Die erste Schwierigkeit, mit der sein Team konfrontiert wurde, war, die Genehmigung für die Geschichte zu bekommen. Die Agenturen sind vorsichtig, wenn es darum geht, ihre Mitarbeiter den Risiken der Pandemie auszusetzen. Die Tatsache, dass alle Medien von Mittelkürzungen betroffen waren, machte die Auswahl von Story-Ideen zu einem langwierigen, komplizierten Prozess.

Es gab noch weitere Herausforderungen. „Ich verbrachte einen Monat in Selbstisolation, während ich an der Story arbeitete, und konnte während dieser Zeit keine anderen Aufträge annehmen”, erinnert sich Mstyslav. Sein Team musste viele Herausforderungen meistern, beispielsweise per Telefon Zugang zu Drehorten erhalten – etwas, das normalerweise persönliche Kommunikation und Bekanntschaft erfordert. Doch trotz aller Schwierigkeiten meisterten sie die Situation und produzierten eine Geschichte, die große Auswirkungen hatte.

„Es gab einige Momente, die mich am meisten beeindruckt haben. Einer davon ereignete sich in einem Krankenhaus, in dem es keine Ausrüstung für die Sauerstoffversorgung gab“, erzählte Mstyslav. „Die Krankenschwestern liefen im Krankenhaus herum und brachten Beatmungsbeutel zu den Patienten. Ein Beutel reichte für etwa 10 Minuten. Dann musste die Schwester den Sauerstoff wieder nachfüllen. Es gab etwa hundert Patienten in diesem Krankenhaus. Und nur wenige Krankenschwestern.“ Später erhielt dieses Krankenhaus als Hilfe neue Geräte zur Sauerstoffversorgung.

Er fügte hinzu: „Während unserer Arbeit waren wir jeden Tag in den Krankenhäusern. Das ist sehr kräftezehrend und psychisch belastend. Als wir sechs Monate später zurückkamen, fanden wir heraus, dass einige der Menschen, die uns geholfen hatten, an Covid gestorben sind. Es ist nicht gerade einfach, so etwas zu hören.”

Ein besorgter Blick auf die Zukunft

Die Erfahrungen der Reporter zeigen, dass das Coronavirus zwar verheerende Auswirkungen auf die Medien hatte, aber auch der Branche geholfen hat, sich zu erneuern. Die Reporter bekamen die Zeit, langfristige Projekte zu entwickeln und neue Ansätze und Technologien zu erforschen. Volodymyr vermutet, dass es in naher Zukunft mehr tiefgründige und kreative Geschichten geben wird.

Gleichzeitig sind alle Reporter, mit denen ich gesprochen habe, besorgt über die schwindenden Mittel in der Journalismusbranche und das Überleben einzelner Medien. „Die Honorare für Reportagen in der Ukraine sind nicht besonders groß. Und jetzt schrumpfen sie sogar noch mehr. Ich denke, die größte Sorge ist, wie schnell sich der Medienmarkt in der Ukraine erholen und auf das Niveau vor der Pandemie zurückkehren wird“, sagte Stas.

Mstyslav wies auf die Gefahren der Umstellung zu Online-Events hin. Reporter könnten bei diesen Veranstaltungen nicht physisch anwesend sein und auch nicht mit Regierungsvertretern interagieren – und sie daher nicht zur Rechenschaft ziehen. „Online-Events sind bequemer und die Medien können Geld sparen. Aber es schadet der Berichterstattung“, sagte er.

Die Reporter sprachen auch die Risiken für Freiberufler an. Aufgrund des Lockdowns verlieren freie Journalistinnen und Journalisten ihre Möglichkeit, für die Arbeit zu reisen. Außerdem zögern große Medienunternehmen und Agenturen, die Verantwortung für die Sicherheit von freien Mitarbeitern zu übernehmen, die an riskanten Projekten arbeiten.

Mstyslav ist besorgt, dass er mit persönlichen Projekten an finanzielle Grenzen stoßen wird, da sie selten Einkommen generieren. „Die gute Sache ist, dass es viele Fonds gibt, die Reportern helfen, wie Rory Peak und National Geographics“, sagt er, „aber es ist definitiv nicht genug.“

 

Dieser Beitrag wurde zuerst auf der ukrainischen EJO-Seite veröffentlicht. Übersetzt aus dem Englischen von Roman Winkelhahn. 

 

 

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