Sehgewohnheiten und Sichtweisen

14. April 2008 • Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: St. Galler Tagblatt

Wir sehen am liebsten, was wir sehen wollen.

Tibet ist arm dran. China ist böse und macht Tibet das Leben schwer. Wie wahr! Das sagen uns Worte und Bilder. So geht das nicht weiter.

Falsche Bilder
Auch die chinesische Staatsagentur Xinhua schaut hin – und schreit in die Welt hinaus, was wir gesehen haben, aber nicht erkennen sollten: Verfälschung! Manipulation! Zum Beispiel auf «10 vor 10». Dort wurden Bilder ausgestrahlt, die Ausschreitungen zeigten zwischen Exiltibetern und Sicherheitskräften in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Diese Bilder habe man aufgrund einer Verwechslung als Bilder aus der tibetischen Hauptstadt Lhasa bezeichnet, entschuldigte sich das Schweizer Fernsehen eilig auf seiner Internetseite. Kann passieren.

Überall. Die Videosequenzen aus Nepal wurden auch auf anderen Sendern Tibet zugeordnet, Fotos aus Lhasa wurden auch anderswo in einen falschen Zusammenhang gestellt.

Eigentlich weiss kein Journalist, was in Tibet wirklich los ist. Aber er weiss, was er seinem Publikum zeigen will: Steine, Blut, Demonstranten und Polizisten. Dann sieht die Welt aus, wie wir sie sehen. Und sie vielleicht auch sehen wollen. Bilder wirken oft nachhaltiger als Worte – jeder nutzt diese Erkenntnis. Natürlich für sich. China warf Journalisten aus Lhasa, um sich möglichst grosse Bildhoheit zu sichern, westliche Medien parierten diesen Kommunikationsboykott durch intensive Kommunikation eines möglichen Olympiaboykotts.

Zum Beispiel Sotschi
In den Medien spiegeln sich immer häufiger nur äussere Zusammenhänge, innere hingegen selten. In mehrerlei Hinsicht.

Erstes Beispiel: Der Tibet-China-Konflikt vor dem olympischen Hintergrund könnte auch als Lehrbeispiel beschrieben werden für die Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Das liegt nahe an der Grenze zu Abchasien, wo man seit langem um internationale Anerkennung der Unabhängigkeit von Georgien ringt. Hier kommt gerade jetzt manches in Bewegung.

Der Blick von daheim
Das zweite Beispiel hat mit den inneren Zusammenhängen nicht bei Themen, sondern in Medienhäusern zu tun. Wer von daheim aus in die Fremde sieht, schaut nicht so genau hin – ein altes Lied für Reporter im Ausland. Sie müssen mitunter zu Tricks greifen, um ihre Themen durch das Nadelöhr der «Heimat-Redaktionen» ins Blatt oder in die Sendung zu bringen. «Geschichten über das Elend in Afrika kann ich nur in der Vorweihnachtszeit verkaufen, sonst nur solche, in denen es knallt, und andere eigentlich gar nicht», beklagt sich ein Afrika-Korrespondent: «Die Kollegen im Stammhaus glauben, sie sehen klarer, was ist, als wir.» Und sie vertrauen Agenturen mehr als Reportern: Erst was über den Ticker geht, wird zum Thema geadelt.

Nur die Agentur zählt
Lange zeigte keiner, was schiefläuft, nun zog der Unmut beim Süddeutschen Journalistentag in Mainz Kreise. Wortführer ist der deutsche Fernsehreporter Ulrich Tilgner, viele Kollegen schlossen sich seiner Kritik an und zeigten auf die immer oberflächlicher werdende Auslandsberichterstattung. Tilgner erzählte, wie er einige Zeit auch für Agenturen gearbeitet und dort morgens Meldungen geschrieben hatte zu den Themen, die er plazieren wollte. Dann konnte er getrost warten: Kaum war die Meldung über den Ticker, wurde er angerufen, ob das nicht ein Thema sei…

Neutral in Grenzen
Tilgner will seinen Sender, das ZDF, im Mai nach 26 Jahren verlassen und vor allem für das Schweizer Fernsehen arbeiten. Auch, weil die Schweiz bei politischer Berichterstattung «neutraler» sei als Deutschland, das Truppen ins Ausland schickt.

Das führt auf ein drittes Beispiel: Neutralität hat Grenzen, wo es um eigene Interessen und Zusammenhänge geht. In der Schweiz wie anderswo inszenieren Medien zwar die Boykottdrohung von Politikern, beziehen aber selbst nicht Position, obwohl das Thema auch sie betrifft: Würde eine Schweizer Zeitung aus eigener Entscheidung und in eigener Verantwortung aus politischen Gründen von einer Berichterstattung über Olympia Abstand nehmen? Würde das Schweizer Fernsehen dies tun? Fragen, die sich keiner stellt.

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