Migranten in Lipa: „Sollte ich jemals ein Buch schreiben…“

30. Juni 2022 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

Amir* aus Pakistan lebt seit zehn Monaten im Aufnahmezentrum Lipa nahe der Stadt Bihać im Westen Bosnien-Herzegowinas. Es sind von hier aus nur wenige Kilometer bis zur kroatischen Grenze – und damit zur Europäischen Union. Amir hat diesen Weg bereits oft auf sich genommen: nach eigener Aussage fünfzehn Mal. Wieso will Amir in die EU? Was erwartet ihn dort? Und hat er überhaupt eine Chance, jemals an sein Ziel zu gelangen?

Die Lage des Aufnahmezentrums Lipa nahe der Stadt Bihać in Bosnien-Herzegowina. (Quelle: umap.openstreetmap.fr)

Es ist ein lauwarmer Nachmittag in Bihać. Hier den Bergen ist es immerhin etwas kühler als im nördlichen Flachland. Der Bus hält vor einer Containerstadt im Nirgendwo: Ankunft im Aufnahmezehntrum Lipa. Auf der Hinfahrt lugten hier und dort einsame graue Hausruinen an den Waldrändern hervor: Relikte des Bosnienkriegs Anfang der 90er Jahre. Was die Sonne an diesem wolkigen Tag nicht sieht, wird von den unzähligen Überwachungskameras eingefangen, die über den grünen Zäunen hängen. Dahinter: 300 bis 350 Männer. Niemand scheint die genaue Zahl zu kennen.

Im Jahr 2020, kurz vor Weihnachten, brannte das ursprüngliche Zeltlager Lipa (Lipa Emergency Reception Centre) ab. Das neue Lager (Lipa Temporary Reception Centre) besteht rein aus Beton und Stahl: brandfest – und trist. Es handelt sich im Übrigen um dasselbe Lager, an das der von Skandalen gejagte Influencer Fynn Kliemann fehlerhafte Gesichtsmasken gespendet haben soll. Aktuell gibt es hier nur eine Covid-19-Regel: Wer ankommt, wird für fünf Tage in einem gesonderten Bereich isoliert. Nur Zigaretten durchqueren den Zaun den Quarantäne-Blocks. Die Männer können sie in einem Laden am Lagereingang kaufen.

Über die Balkanroute

In einem der weißen Container direkt gegenüber den Sanitäranlagen lebt Amir gemeinsam mit fünf weiteren Männern. Amir ist 34 Jahre alt und hat in Pakistan als Metzger gearbeitet. Er ist ohne seine Familie nach Europa gekommen – über den Iran und die Türkei nach Griechenland, dann über Nordmazedonien und Serbien weiter bis nach Bosnien-Herzegowina. Zwar lässt sich Amirs Route nicht zuverlässig nachprüfen, er beschreibt jedoch den klassischen Weg der berühmten Balkanroute, die 2016 im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ weitestgehend von Seiten der EU geschlossen wurde.

Per Definition ist Amir kein Flüchtling, sondern Migrant. Vorab muss hier deutlich erwähnt werden: Asyl in der Europäischen Union wird ihm mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht gewährt. Außerdem hat Amir bereits in Griechenland erstmals EU-Terrain betreten. Grundsätzlich ist das Land dann auch für sein Asylgesuch zuständig. Jedoch ist davon auszugehen, dass Amir in Griechenland nicht registriert wurde und sein Aufenthalt dort somit nicht nachgewiesen werden kann.

Wieso erzählt das EJO Amirs Geschichte?

Die Themen Migration und Flucht wurden spätestens 2015 zu einem Kernthema der Berichterstattung der europäischen Medien. Das Erich-Brost-Institut der TU Dortmund, wo das EJO angesiedelt ist, hat mehrere Studien zur Berichterstattung über Migranten und Flüchtlinge veröffentlicht. Um zu verstehen, was eine gute Berichterstattung – sowohl im ethischen als auch im handwerklichen Sinne – ausmacht, müssen Journalisten die Situation vor Ort in den Aufnahmezentren und Zeltlagern nachvollziehen können, die Gründe zur Flucht oder Migration kennen und das politische Narrativ, das wiederum auf politischen Interessen gründet und das allgemeine Bild von Flüchtlingen und Migranten wesentlich prägt, verstehen.

„Sollte ich jemals ein Buch schreiben“, erzählt Amir, während wir am Containerblock mit den Toiletten entlanggehen, „dann wird das mindestens zweihundert Seiten haben.“ Immer wieder wiederholt sich der Mann, erzählt, wie er während seiner Reise von Pakistan nach Europa Menschen hat sterben sehen. Seine Familie könne er seit Wochen nicht erreichen, weil ihm ein kroatischer Grenzpolizist das Handy weggenommen haben soll. Die Erfahrungen an der Grenze – sie sind das, was Amir, so wie die meisten Männer hier, verzweifeln lässt.

Push-Backs: Raus aus welchen Ländern und in welche Länder hinein? Ergebnisse von Zeugenbefragungen durch die NGO „Border Violence Monitoring Network“ (BVMN): Aus welchem und in welches Land wurde die befragte Person durch ein sog. Push-Back gebracht? Anzahl der Befragten: 1520. Unter „Andere“ fallen: Italien (aus: 1,6%, nach: k.A.), Nordmazedonien (3%, k.A.), Ungarn (7%, k.A.), Slowenien (14%, k.A.), Montenegro (k.A., 1,2%), Türkei (k.A., 15%), Serbien (k.A., 24%), sonstige (1,9%, 2,4%). Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des BVMN, s. Literatur.

Was die Migranten in Lipa berichten, bestätigen unabhängige Beobachter und Korrespondenten europäischer Medienhäuser. Der Weg an die EU-Außengrenze führt die Männer durch die Gebirgswälder der Region. Hier hat der Grenzschutz Schneisen ins Gehölz schlagen lassen, um die Migranten mit Drohnen beobachten zu können. Wer es an die Grenze schafft, dem drohen Prügel. Amir zeigt mir einen Mann, dem die Polizei den Arm gebrochen haben soll. Sein Hab und Gut, erzählt Amir, habe er verloren, als die kroatische Polizei alle Rucksäcke auf einen Haufen warf und sie mit Benzin anzündete.

Die sogenannten „Push-Backs“ sind rechtlich höchst umstritten. Laut dem European Center for Constitutional and Human Rights „verstoßen [sie] u.a. gegen das Verbot der Kollektivausweisung, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist“. Auch die Frage, ob ein Staat Gewalt anwenden darf, um seine Grenzen zu sichern, ist nicht abschließend geklärt. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages schreibt in der Fallanalyse „‘Push-Backs‘ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des Völkerrechts“ (2020): „Letztlich kommt es […] immer auf die Umstände des Einzelfalls an, so dass sich eine pauschale rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskräfte verbietet.“ Vor allem sei zu prüfen, ob den Grenzschützern selbst seitens der Migranten mit Gewalt begegnet worden sei.

Gewalt an der Grenze

In Lipa gibt es den Spruch „Europe or die“ – Europa oder sterben. Amir hat in den vergangenen Monaten bereits fünfzehn Mal versucht, über Kroatiens Grenze hinaus nach Mitteleuropa zu gelangen. Jedes Mal riskiert er dabei seine Gesundheit und sogar sein Leben. Einmal, erklärt er, sei er krank geworden, weil er auf dem Weg zur Grenze nur Flusswasser getrunken und Blätter gegessen habe. Dennoch: Womöglich ist Amir gerade wieder unterwegs. Ob er und die Männer, mit denen er versucht, die Grenze zu überqueren, die Gewalt der kroatischen Polizei erwidern oder gar provozieren, lässt sich nicht überprüfen. Amir selbst sagt, dass die Versuche, in die EU zu gelangen, für ihn viel weniger schlimm wären, wenn es die Polizeigewalt nicht gäbe.

Wer hat ein Recht auf Asyl?

Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben jene Menschen ein Recht auf Asyl, die aufgrund ihrer „Rasse“, Nationalität, politischen Überzeugung, Religion oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe politisch verfolgt werden und keine Fluchtalternative innerhalb des Herkunftslandes haben.

Erhoffter Geldsegen aus Europa: Geldsendungen aus dem Ausland nach Pakistan in Mrd. US-Dollar pro Jahr (2000-2021). Das BIP Pakistans betrug 2021 rund 348 Mrd. US-Dollar. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des Migration Data Portal der International Organization for Migration (IOM).

Geld an die Familie

Nach eigener Aussage erhofft sich Amir in der EU ein besseres Leben. Er will Geld zu seiner Familie nach Pakistan schicken. Er sei kein schlechter Mensch, sagt Amir. Er wolle bloß Arbeit finden.

In Lipa verdienen sich die Männer aus Pakistan ein wenig Geld dazu, indem sie im Lager Speisen verkaufen, die sie in der „Pakistani kitchen“ zubereiten. Auf einem Blech über einer Betonschale, in der rote Kohlen glühen und qualmen, backen die Männer Fladenbrote. In einem eisernen Topf köchelt das Gemüse vor sich hin.

Für Amir ist die Küche eine gute Ablenkung. Jeder Tag hier im Aufnahmezentrum sei von Langeweile und Verzweiflung geprägt, sagt er. Es gebe nicht viel zu tun: Neben dem Bolzplatz steht die provisorische Moschee, ein weißes Zelt, dessen Boden mit filigran gewebten Teppichen bedeckt ist. Hier geht Amir beten. Durch die Containerstadt ziehen streunende Hunde und Katzen. Immer wieder zündet sich jemand eine Zigarette an.

Worüber niemand spricht

Was Amir von seinen Erfahrungen an der kroatischen EU-Außengrenze erzählt, bestätigen Recherchen des Spiegel und anderer Medien, darunter SRF, ARD und RTL Kroatien, sowie der NGO „Border Violence Monitoring Network“ aus dem Jahr 2021: Körperliche Misshandlungen, das Verbrennen von Eigentum, die Wegnahme der Mobiltelefone. Die Gräueltaten gegen Menschen an der Grenze der Europäischen Union lassen sich nicht leugnen. Dennoch werden sie politisch ignoriert. Ognian Zlatev, Leiter der Vertretung der Europäischen Union in Kroatien, verweist auf die Verantwortung der örtlichen Behörden. Wer nicht versuche, die Grenze „irregulär“ durch den Wald zu überqueren, sondern am Grenzübergang um Asyl bitte, bekomme laut Zlatev auch keine Probleme.

Literatur

Border Violence Monitoring Network (2022). Statistics About the Countries of Push Backs. https://www.borderviolence.eu/statistics/countries-of-push-backs/

Border Violence Monitoring Network (2022). Statistics About Reports. https://www.borderviolence.eu/statistics/

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2022). Asylberechtigung. https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/AblaufAsylverfahrens/Schutzformen/Asylberechtigung/asylberechtigung-node.html

Deutscher Bundestag (2020). „Push-Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des Völkerrechts. https://www.bundestag.de/resource/blob/690272/250636548780b97d40c7d89edb84a020/WD-2-028-20-pdf-data.pdf

European Center for Constitutional Human Rights (n.d.). Thema: Push-Back. https://www.ecchr.eu/glossar/push-back/

*Zum Schutze des Gesprächspartners hat die Redaktion dessen Namen geändert. Der tatsächliche Name ist dem Autor und der Redaktionsleitung bekannt.

Die Infografiken wurden mit dem Online-Tool Infogram erstellt.

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