In der Corona-Schockstarre

21. April 2020 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Machen die Medien in der Coronakrise einen guten Job? Oder fehlt es am nötigen Abstand zur Politik? Das fragt sich der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl.

Seit Wochen dominiert in den meisten Medien Corona. Bilder von Leichentransporten in Bergamo und Leichenkühlhäusern in New York sowie – täglich neu – weltweite Statistiken zu den Todesfällen und Infiziertenzahlen versetzen uns in Angst und Schrecken. Mit anderen Themen und auch mit kritischen Kommentaren zur Corona-Berichterstattung war in den Medien seit Aschermittwoch kaum durchzudringen. Zunächst sind mir nur drei prominente Medienforscher aufgefallen, die bereits in der Phase der Corona-Schockstarre mit notwendiger Kritik Aufmerksamkeit erzielten: Otfried Jarren (Universität Zürich), Klaus Meier (Universität Eichstätt) und Bernhard Pörksen (Universität Tübingen).

Eine gründlichere Recherche hat dann erfreulicherweise weitere Einlassungen zutage gefördert – und zwei brandaktuelle Forschungsarbeiten: Daria Gordeeva, Doktorandin an der Universität München, hat in einer ersten Inhaltsanalyse die Corona-Berichterstattung von „Spiegel“, „Süddeutscher Zeitung“, „FAZ“ und „Bild“ untersucht. Sie gelangte zu der Erkenntnis, die Kriegs- und Feindrhetorik dieser Medien habe uns regelrecht – wie in einem richtigen Krieg – in die „schützenden Arme der Exekutive“ getrieben. Der Medienforscher Thorsten Quandt (Universität Münster) wartete wiederum mit einer Studie auf, wie populistisch-alternative Medien Desinformation und Verschwörungstheorien streuen.

Ich selbst habe einen Fragenkatalog an Medienverantwortliche und an meine Forscherkollegen gerichtet. Hier ist ein Auszug:

Panikmache: Haben die Medien mit ihrer Corona-Berichterstattung mehr Angst und Schrecken geschürt als nötig? Haben sie mit ihrer monothematischen und erstaunlich gleichgerichteten Berichterstattung den Boden bereitet, die Politik der Bundesregierung als „alternativlos“ erscheinen zu lassen? Ja, haben sie vielleicht sogar erst das Meinungsklima erzeugt, das den Shutdown „alternativlos“ werden ließ? Warum werden wir mit Zahlen von nachgewiesenen Infizierten und Todesopfern bombardiert, obschon den Wissenschaftlern die entscheidenden Daten zur Einordnung der Gefährlichkeit des Virus (z. B. Dunkelziffer, Grad der Durchseuchung) fehlen?

Quellenvielfalt und Quellenprüfung: Warum waren es zunächst immer dieselben Experten, die exklusiv vor die Kamera geholt wurden? Fehlen auch in größeren Redaktionen Wissenschafts- und Medienjournalisten, die angemessen für Quellenvielfalt sorgen sowie einordnen und kontextualisieren können, was ihnen von Virologen und Epidemiologen zugeliefert wird und wie die Medien mit diesen Informationen umgehen?

Transparenz der Berichterstattungs-Bedingungen: Warum erfahren wir von den Leitmedien so wenig über die Bedingungen, unter denen sie berichten – insbesondere dann, wenn als Quellen PR genutzt wird oder wenn, wie wochenlang im Fall von China, Regierungspropaganda autoritärer Regime weiterverbreitet wird?

Grenzen internationaler Vergleiche: Warum vergleichen Journalisten weiterhin international Corona-Tote und -Infizierte – obschon bekannt ist, dass die Zahlen auf unterschiedliche Weise erhoben werden und damit Vergleiche nicht aussagekräftig sind?

Kontextualisierung von Rettungsprogrammen: Wo doch menschliches Vorstellungsvermögen von Milliarden und Billionen Euro begrenzt ist: Weshalb wird so selten versucht, die Fördersummen, mit denen derzeit die Regierungen um sich werfen, durch Vergleiche begreifbarer zu machen?

Herdentrieb: Wie lässt sich die Selbstgleichrichtung der Corona-Berichterstattung in den Leitmedien bis zum Shutdown erklären? Welche Rolle spielen im Kontext der Corona-Berichterstattung Erkenntnisse der Verhaltensökonomie und der Sozialpsychologie zum Herdenverhalten von Menschen und eben auch von Journalistinnen und Journalisten?

 

Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 19. April 2019

 

Hier geht es zum vollständigen Dossier von Stephan Russ-Mohl

Hier geht es zum EJO-Beitrag „Kritik an der Medienkritik“ – in einem Kommentar in der FAZ hat Ex-FAZ-Herausgeber Werner D’Inka die Medienwissenschaftler, die Kritik an der Corona-Berichterstattung geübt haben, kritisiert

 

Bildquelle: pixabay.com 

 

 

 

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