Eine europäische Öffentlichkeit wäre überaus wichtig

3. Juni 2019 • Internationales, Qualität & Ethik • von

Seit die ersten handverlesenen Europakorrespondenten nach Brüssel entsandt wurden, hat sich vieles verändert. Das hat nicht nur mit dem Schwinden des seriösen Journalismus zu tun.

Wer das Ergebnis der europäischen Wahlen analysiert und nach tieferen Ursachen Ausschau hält für die vielen krisenhaften Entwicklungen in deren Vorfeld, vom Wiedererstarken des Populismus und Nationalismus in den Ländern der EU über die Migrationspolitik bis hin zur Euro-Krise – der stößt auf zwei miteinander verkoppelte strukturelle Defizite. Beide finden im öffentlichen Diskurs wenig Beachtung: Es fehlt an einer europäischen Öffentlichkeit, soll heißen: an einem gemeinsamen Kommunikationsraum der Europäer.

Und es mangelt darüber hinaus in vielen EU-Ländern an professionellen Mindeststandards und Infrastrukturen für den Journalismus und für die Nachrichtenmedien, die eine halbwegs unabhängige und verlässliche Information der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten.

Merkwürdigerweise scheint sich im „offiziellen“ EU-Europa kaum jemand dafür zu interessieren. Dabei wissen wir eigentlich, dass eine Mammutherausforderung wie die europäische Integration nicht zuletzt kommunikativ zu bewältigen ist. Wie alle Regierungsapparate gibt die EU Millionen Steuergelder aus, um ihr Image in der Öffentlichkeit mit Werbung und PR zu polieren. Das institutionalisierte Europa hat es indes versäumt, sich auch der „Gegenseite“ anzunehmen – sieht man einmal von 25 Millionen Euro Direktsubventionen ab, die der nahezu unsichtbare Sender Euronews jährlich verschlingt.

Zeit für Recherche?

Als kritisches Korrektiv, als Kontrollinstanz, als Institution, die Glaubwürdigkeit gewährleistet, bedarf es zusätzlich und vielleicht sogar vorrangig des seriösen Journalismus. Ein Blick zurück lohnt, weil er zeigt, dass vieles vor nicht allzu langer Zeit noch anders war: Für die ersten Generationen der Europakorrespondenten waren die Dinge in Brüssel noch halbwegs überschaubar. Das europäische Projekt war jung, es erfreute sich im freiheitlichen Teil Europas großer Akzeptanz. Nach Brüssel entsandt wurden vor allem Korrespondenten, die kenntnisreich und kritisch-distanziert, aber im Grundtenor eben doch wohlwollend über den Einigungs- und Integrationsprozess berichteten.

Journalisten von hohem Karat gibt es natürlich weiterhin, und die „gute alte Zeit“ lässt sich auch nicht trennscharf von der neuen separieren. Die Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten zwanzig Jahren indes drastisch verändert: Heute ist die EU überkomplex. Allein das Parlament umfasst 751 Abgeordnete. Ihnen arbeiten 7500, also zehnmal so viele Mitarbeiter zu. Die EU-Kommission hat 28 Kommissare – für jedes Mitgliedsland einen. Die Regierungsbürokratie wuchert: 32 000 Mitarbeiter arbeiten den Kommissionschefs zu. 4300 Dolmetscher und 800 Übersetzer sind im Einsatz. Vorgelagert ist ihnen eine gigantische Armee von Lobbyisten: Experten schätzen, dass insgesamt 25 000 Interessenvertreter in Brüssel im Einsatz sind, offiziell registriert sind 11 200.

Nur der Journalismus ist nicht so richtig mitgewachsen. Die Europa-Berichterstattung ist Teil der Auslandsberichterstattung. Korrespondentenbüros, aber auch die heimischen Auslandsressorts sind in Zeiten schwindsüchtiger Abo- und Werbeerlöse der Medien meist unter den ersten Kürzungsopfern. So schrumpfte das Brüsseler Korrespondenten-Korps in den letzten vier Jahren um stattliche 20 Prozent, von 955 auf 770 registrierte Journalisten. Setzt man die Zahl der Lobbyisten, die private Interessen verfolgen, in Relation zu den registrierten Journalisten, die im öffentlichen Interesse als „Vierte Gewalt“ die EU beobachten sollen, ergibt sich ein (Miss-)Verhältnis von 14:1. Wobei solche Zahlenspielchen mit Vorsicht zu genießen sind.

Exponentiell wuchs im Journalismus immerhin die Schar der freien Mitarbeiter. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, aber laut einer Studie haben sie sich allein von 2010 bis 2015 verachtfacht. Viele von ihnen nagen freilich eher am Hungertuch: ein Einfallstor für PR, denn Zeit für Recherche bleibt ihnen selten.

Auch in Brüssel herrschen zynische Regeln

Solche Umstände begünstigen die „Johnsonifizierung“ der Berichterstattung aus Brüssel. Sie ist aufmerksamkeitsheischend und oberflächlich, und sie interessiert sich mehr für die fette Schlagzeile als für Tiefschürfendes und für Wahrheitsfindung. Trendsetter war Boris Johnson. Lange bevor er Galionsfigur der Brexit-Kampagne, später britischer Außenminister und jetzt Kandidat für die Nachfolge von Theresa May wurde, war er von 1989 bis 1994 Korrespondent des Daily Telegraph in Brüssel und spielte dort eine unselige Rolle: Er forcierte die Antihaltung der Engländer gegenüber der EU, indem er mit halbgaren, besonders süffigen Boulevard-Storys seine Korrespondenten-Kollegen übertrumpfte. Die Geschichten gefielen auch anderen Chefredakteuren der berüchtigten Londoner Tabloid-Presse.

Und weil im Journalismus nur wenig so zuverlässig funktioniert wie der Herdentrieb, kann man sich ausmalen, wie auf Redaktionssitzungen gefragt wurde: „Warum haben wir das noch nicht im Blatt?“ So machten Einzelbeispiele Schule, und am Ende kam der Brexit heraus.

Aber auch auf dem Kontinent hat sich die Europa-Berichterstattung „normalisiert“: Gefühlt findet sie meist dann statt, wenn es die Auswüchse der Brüsseler Bürokratie oder die Selbstblockade der europäischen Politik zu thematisieren gilt. Nachrichten über Fehlkonstruktionen wie die Einstimmigkeitsregel, über Regelbrüche wie die Verletzung der Maastricht-Kriterien oder über unsinnige Vorschriften wie das berühmte Beispiel der Gurken-Krümmung bestimmen das alltägliche Bild. Inzwischen gilt für die EU-Berichterstattung ebenso wie anderswo die alte, zynische Journalisten-Regel „Only bad news is good news“.

Statt eines europäischen Narrativs dominiert jeweils die nationale Perspektive: Die Medien berichten vornehmlich über Krisen, spitzen diese zu und schüren damit Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen. Der Politikberater Johannes Hillje meint warnend, es komme zu einem „polit-medialen Teufelskreis aus Konflikt, News und Nationalismus“, der letztlich den Populisten in die Hände spiele.

Medienprojekte und Infrastrukturen

Weil man in Brüssel vom Wohlwollen der ersten Korrespondentengenerationen verwöhnt war, vernachlässigten sowohl die EU als auch die Medien selbst den Ausbau europäischer Journalismus-Infrastrukturen. Paneuropäische Medienprojekte sind entweder gescheitert wie vor Jahren Robert Maxwells Zeitung The European oder bedeutungslos geblieben wie Euronews.

Vor allem von den öffentlichen Rundfunkanstalten hätte frühzeitig eine nachhaltigere Initiative dazu ausgehen können, mit gemeinsamen, in alle EU-Sprachen übersetzten Informations- und Unterhaltungsangeboten einen europäischen Kommunikationsraum entstehen und auch die Journalismuskulturen zusammenwachsen zu lassen.

Inzwischen ist es freilich fünf Minuten nach zwölf: Printmedien und lineares Fernsehen sind in Auflösung begriffen. Vor allem die junge Generation liest wenig Zeitung und sitzt auch nicht mehr zu bestimmten Zeiten vor der Glotze. Und weil man mit Journalismus kaum Geld verdienen kann, verleiben sich nicht nur in Osteuropa Oligarchen, die politisch Macht ausüben wollen, Medienunternehmen ein.

Ausbildung und Brückenbau

Sträflich vernachlässigt hat die EU auch eine europäische Journalisten-Ausbildung. Zwar gibt es über Erasmus-Programme munteren Studentenaustausch, aber mehrsprachige Bachelor- und Master-Studiengänge für Journalistik und internationale Kooperationen – wie z. B. soeben von der Universität Mainz und der Sorbonne beschlossen – sind rar.

Um überhaupt in Europa ein gemeinsames Grundverständnis von journalistischer Professionalität entstehen zu lassen, um „best practices“ zu registrieren und um einen Austausch zwischen den nationalen Journalismus-Kulturen in Gang zu bringen, fehlt es vor allem in Süd- und Osteuropa an Fachmedien und Plattformen, die sich an Medienpraktiker richten, wie etwa das vom Autor mitgegründete, inzwischen 15-sprachige European Journalism Observatory (EJO).

Allianzen gegen Desinformation

Zur Bekämpfung von Desinformation bedarf es weiterer solcher Initiativen und Netzwerke, und zwar nicht nur in der Medienforschung und auch nicht nur auf europäischer Ebene. Sprich: Wissenschaftler und seriöse Journalisten sollten jeweils themenbezogen über Landes- und Sprachgrenzen hinweg enger zusammenarbeiten. Zwar sind allzu große Erwartungen an solche „Allianzen für die Aufklärung“ unrealistisch, denn Journalismus und Wissenschaft bewegen sich wie Mars und Venus in verschiedenen Umlaufbahnen. Andererseits sind die beiden nun einmal die wahrheitssuchenden Systeme in unseren Gesellschaften. Der Präsident der Europäischen Akademien, Antonio Loprieno, hat kürzlich auf die Bedeutung von Vertrauen in komplexen Gesellschaften hingewiesen. Den emotionsbasierten Sichtweisen im Netz gelte es entgegenzuwirken und „real news“ zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Wissenschaftler sollten dazu einen „Dialog auf Augenhöhe“ mit der Gesellschaft führen. Es käme auf viele weitere Versuche an, genau das gemeinsam mit seriösen Journalisten auszuprobieren. Vielleicht könnte die EU ja solche Initiativen unterstützen, statt mit eigenen „Task Forces“, sprich: Behörden, Fake-News zu bekämpfen.

EJO-Gründer Stephan Russ-Mohl war bis 2018 Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano. Dieser Text ist ein Auszug seiner Abschiedsvorlesung vom 28. Mai 2019.

Erstveröffentlichung: NZZ vom 31. Mai 2019

Bildquelle: © European Union 2015 – European Parliament; Flickr CC; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

 

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