„Behutsam vorgehen“ – Wie britische Zeitungen über den Brexit berichteten

17. August 2016 • Internationales • von

Vor dem Brexit-Referendum hatten die Daily Mail und der Telegraph die Austrittskampagne enthusiastisch unterstützt – nach der Wahl aber haben sie die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, keinesfalls positiv bewertet. Das zeigt eine Analyse ihrer Berichterstattung in der Woche nach dem Referendum.

Brexit falloutFür die Analyse, die im Rahmen einer größer angelegten Untersuchung des European Journalism Observatory durchgeführt wurde, ist die Berichterstattung von drei britischen Tageszeitungen  –  Daily Mail, The Telegraph und The Guardian –  über den Brexit zwischen dem 25. Juni und 1. Juli unter die Lupe genommen worden (inklusive Sonntagsausgaben).

Die Artikel wurden als negativ (anti-Brexit), positiv (pro-Brexit) oder neutral in Hinblick auf die folgenden Themen und Fragen beurteilt: die Folgen des Brexit für Großbritannien, die Auswirkungen des Brexit auf die EU und ob es der EU mit oder ohne Großbritannien besser gehen wird.

Wie die Auswertung der insgesamt 489 Artikel zeigt, waren die Reaktionen der drei britischen Zeitungen auf das EU-Referendum in diesem Zeitraum mit 39 Prozent überwiegend negativ, 34 Prozent waren neutral und 27 Prozent positiv.

Die vorsichtige Art der Berichterstattung zeigt, dass die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, unerwartet kam – auch für die Zeitungen, die sich im Vorfeld für den Brexit ausgesprochen hatten. So sei es laut einer Quelle des Telegraph nicht an der Zeit, sich „hämisch zu freuen“, stattdessen müsse „nüchtern und verantwortungsbewusst“ berichtet werden. Die redaktionelle Linie wurde auch von wirtschaftlichen Interessen geleitet: Die Zeitungen wollten nicht die Leser vergraulen, die gegen einen Austritt gestimmt hatten.

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Wie der Telegraph, die Daily Mail und der Guardian in der Woche nach dem Referendum über den Brexit berichteten.

Pro-Brexit-Zeitungen unsicher, ob der Brexit gut für Großbritannien ist

In den meisten der Artikel über den EU-Austritt, die nach dem Referendum in den drei britischen Zeitungen erschienen, wurden die Auswirkungen des Brexit für Großbritannien thematisiert. Die Daily Mail veröffentlichte 50 Artikel (30 Prozent), in denen argumentiert wurde, dass der Brexit gut für Großbritannien sei, der Telegraph veröffentlichte 52 (38 Prozent) – und der Guardian publizierte sechs Artikel (3 Prozent). Die Beiträge wurden als positiv bewertet, wenn sie Aussagen beinhalteten wie „der Brexit wird die Wirtschaft Großbritanniens stärken“, „Großbritannien kann sich nun aussuchen, mit wem es Geschäfte macht“, „keine EU-Einwanderungsquoten mehr“, „Großbritannien kann nun seine eigenen Grenzen kontrollieren“ und „Großbritannien erhält seine Souveränität zurück“.

Der Guardian veröffentlichte 113 Artikel (56 Prozent), die genau das Gegenteil argumentierten – dass der Brexit negative Auswirkungen für Großbritannien habe. In diesen Artikeln fanden sich Aussagen wie „das britische Pfund wird schwächer“, „Investoren werden sich zurückziehen“, „der Brexit wird die gesellschaftliche Spaltung verstärken“. Die Mail stimmte dem in einigen Artikeln zu. Sie veröffentlichte im Untersuchungszeitraum 25 Artikel (19 Prozent), in denen argumentiert wurde, dass der Brexit  Großbritannien schaden werde; der Telegraph veröffentlichte 18 Artikel (10 Prozent) dieser Art, 81 (46 Prozent) seiner Beiträge wurden als neutral kodiert.

Ist der Brexit gut oder schlecht für die EU?

Von den drei untersuchten britischen Zeitungen veröffentlichte der Guardian die meisten Artikel, die der Ansicht waren, dass der Brexit negative Auswirkungen auf die Europäische Union haben werde, nämlich 20; das sind 10 Prozent seiner Berichterstattung über den Brexit im Untersuchungszeitraum. Im Telegraph fanden sich vier Artikel (2 Prozent) dieser Art und in der Mail keine; dies mag auch ihre hauptsächlich aufs Inland ausgerichtete Berichterstattung wiederspiegeln. In den Artikeln, die argumentierten, dass der Brexit negative Folgen für die EU haben werde, fanden sich Sätze wie „der Brexit wird ein wirtschaftliches Chaos in Europa verursachen“, „der Brexit wird den Frieden in Europa bedrohen“ , „dies ist ein Sieg für Rechtsextreme“ oder „der Brexit wird in Europa die Spaltung in Reiche und Arme noch verstärken“.

Screen-Shot-2016-08-02-at-08.09.51 Braucht die EU Großbritannien?

Auf die Frage, ob die EU als Institution ohne Großbritannien besser oder schlechter dran sein werde, hatte der Telegraph keine eindeutige Antwort. Er veröffentlichte im Untersuchungszeitraum vier Artikel, die argumentierten, dass es der EU ohne Großbritannien besser gehen werde und vier, die das Gegenteil besagten. In einem Artikel vom 26. Juni schrieb Europa-Redakteur Peter Foster im Telegraph: „Angela Merkel versuchte erst gar nicht, den Ernst der Lage zu verkennen, indem sie offen zugab, dass der Austritt der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt und bedeutender NATO-Bündnispartner ein ‚Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess‘ sei, der nicht ignoriert werden könne.“

Der Guardian publizierte drei Artikel, die betonten, dass Großbritannien ein bedeutendes Mitglied der EU sei und keine Artikel, die argumentierten, dass es der EU ohne Großbritannien besser gehen werde. In der Daily Mail fanden sich vier Artikel, die  hervorhoben, dass die EU Großbritannien brauche, um erfolgreich zu sein, drei argumentierten das Gegenteil.

Screen-Shot-2016-08-02-at-08.09.21Keine Leser vergraulen

Die neutrale Berichterstattung des Telegraph direkt nach dem Referendum basiert laut einer Quelle der Zeitung auf der redaktionellen Entscheidung, „behutsam vorzugehen“. „Es wäre falsch gewesen, sich hämisch zu freuen und zu sagen‚ das haben wir Euch ja gesagt‘“, so die Quelle gegenüber dem EJO. „Es handelte sich um ein bedeutsames Ereignis und wir mussten ernst damit umgehen. Wir waren vor dem Referendum für den Brexit, aber wir waren auch pragmatisch und wollten unseren Lesern beide Argumentationsseiten näherbringen. Diese pragmatische Einstellung hielt bei uns auch nach dem Referendum an. Die Zeitung glaubte zwar, dass ein EU-Austritt das Beste für Großbritannien wäre, das Ergebnis aber hatte die Nation gespalten und es war uns wichtig, sie wieder zusammenzuführen.“

Der Telegraph wollte auch nicht die Leser vergraulen, die gegen den Brexit gestimmt hatten. „48 Prozent der Bevölkerung und 30 Prozent unserer Abonnenten hatten sich gegen den Brexit ausgesprochen – die wollten wir nicht verlieren. Somit basierte unsere redaktionelle Entscheidung auch auf wirtschaftlichen Interessen.“

Beschwerden über Berichterstattung

Direkt nach dem Referendum wurde die Berichterstattung von einer Haltung charakterisiert, die sich am ehesten mit „Lasst uns das in Ordnung bringen“ beschreiben lässt. Wirtschaftsredakteur Ambrose Evans Pritchard kommentierte im Telegraph: „Die, die bleiben wollten und die, die gehen wollten, sind plötzlich auf derselben Seite.“

Alle drei Zeitungen berichteten nach dem Votum von Gräben zwischen Pro- und Anti-Brexit-Wählern. Diejenigen, die gegen den EU-Austritt stimmten, beschuldigten diejenigen, die für ihn waren, „fremdenfeindlich“ zu sein, während die Pro-Brexit-Wähler die etwa vier Millionen Menschen, die mit einer Petition eine neue Abstimmung forderten, als „elitär“ und „verwöhnt“ bezeichneten.

Viele der Anti-Brexit-Artikel, die nach dem Referendum veröffentlicht wurden, thematisierten den Anstieg rassistischer Attacken und Beschimpfungen. Die drei untersuchten Zeitungen stimmten mehrheitlich darin überein, dass dies eine negative Auswirkung des Brexit sei.

In der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums wurden viele Artikel über die interne Politik in der Konservativen- und in der Labour-Partei veröffentlicht. Diese wurden in der Analyse nur berücksichtigt, wenn sie ausdrücklich den Brexit erwähnten; viele von ihnen wurden als neutral kodiert.

Während und nach der Brexit-Kampagne wurden zahlreiche Beschwerden über irreführende und einseitige Berichterstattung einiger britischer Zeitungen beim Independent Press Standards Organisation (IPSO) eingereicht, darunter auch Beschwerden über die Mail und den Telegraph.

Die meisten Beschwerden erhielt IPSO aber über die Berichterstattung im Daily Express, eine Boulevardzeitung, die nicht Bestandteil der EJO-Analyse war. Sie hatte in den Wochen vor dem Referendum sehr negativ über Migranten berichtet.

Während den Boulevardzeitungen einseitige Berichterstattung vorgeworfen wurde, waren viele der Ansicht, dass die BBC zu ausgewogen über den Brexit berichtet habe. So schreibt Ivor Gabor, Professor für Journalismus an der University of Sussex, in einem Artikel, was auch die Meinung vieler anderer Briten widerspiegelt: „Nahezu jede Radio- oder TV-Nachrichtensendung der BBC, die ich hörte oder sah, berichtete ‚ausgewogen‘ und unfassbar vorhersehbar. Eine Behauptung der Anti- oder Pro-Brexit-Partei wurde automatisch von einem Statement der anderen Seite widerlegt. Erstens wurde das Hören und Sehen dadurch sehr langweilig, zweitens brachte es wahrscheinlich viele Zuhörer und Zuschauer durcheinander und drittens machte es das Publikum für allzu simple Statements anfällig.“

Üben britische Zeitungen noch Einfluss aus?

Ist es noch von Bedeutung, was Zeitungen schreiben? Nicht wirklich, wie Stig Abell, ehemaliger leitender Redakteur bei der Zeitung The Sun, kürzlich in der New York Times schrieb. Abell, inzwischen Redakteur beim Times Literary Supplement, ist der Ansicht, dass die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, ein „Pyrrhussieg für den britischen Printjournalismus“ sei. Dass die britischen sehr parteiischen, überwiegend rechtsorientierten Zeitungen den Brexit befürworteten, sei nicht anders zu erwarten gewesen: Die Stimmung im Land, außerhalb des kosmopolitischen Londons und des europafreundlichen Schottlands, sei extrem migrationsfeindlich und pronationalistisch. Die Zeitungen hätten sowohl diese Stimmung angeheizt; als auch auf sie reagiert.

Die unerwartete Entscheidung, die EU zu verlassen, mag einige britische Zeitungen, die mit sinkenden Auflagen und Einnahmen zu kämpfen haben, dazu gebracht haben, mehr über eine mögliche Auswirkung des Brexit auf sie selbst nachzudenken. Vielleicht hatten auch die jüngsten Voraussagen, dass der Brexit einen weiteren Rückgang der Werbeeinnahmen um 200 Millionen Pfund  mit sich bringen könnte, einen dämpfenden Effekt auf den Brexit-Enthusiasmus in der Berichterstattung.

Die Studie

Die Analyse der britischen Zeitungen war Teil einer größer angelegten Untersuchung über die Brexit-Berichterstattung in der Woche nach dem Referendum, die in insgesamt 14 Ländern durchgeführt wurde: Albanien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Lettland, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweiz, Tschechien, Ukraine, Ungarn und USA.

 

Bildquelle: duncan c / Flickr CC: House prices hit by Brexit fallout; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Grafik: Sara Bellicini

Titelseiten des Guardian und Telegraph: Screenshots

 

Original-Version auf Englisch: ‘Proceed With Caution’: How Three UK Newspapers Covered The Brexit Result

Übersetzt aus dem Englischen von Tina Bettels-Schwabbauer

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