So frei und unabhängig wie in Europa können Journalistinnen und Journalisten weltweit sonst allenfalls in den USA und Kanada, in Australien und Neuseeland arbeiten. Wer aber genauer hinschaut, dem wird klar: Pressefreiheit ist auch in Europa ein angreifbares Recht.
Ob durch neue Gesetzesinitiativen bestimmter Regierungen, veränderte Besitzverhältnisse und Strategien von Medienkonzernen oder angestoßen letztlich durch thematische Herausforderungen wie Flüchtlingsbewegung, Terrorismus, Populismus und digitale Überwachung: Es gibt immer wieder Versuche, Medien zu gängeln, und somit genügend Anlässe, sich um die Freiheit der Berichterstattung zu sorgen. Aufgeweckte Seismografen in internationalen Organisationen und die Standards, die der Europarat und die Europäische Union ihren Mitgliedern für ihre Medienlandschaften abgerungen haben, bilden wichtige Gegengewichte. Doch sind sie schwer genug?
Pressefreiheit bedeutet zum einen das Recht, zu „pressen“, zu drucken, also Medienunternehmen zu gründen, und zum anderen das Recht, Informationen und Meinungen zu verbreiten. Pressefreiheit hat somit eine ökonomisch-unternehmerische sowie eine publizistisch-inhaltliche Dimension. Politisches System und Medienfreiheit stehen dabei in Bezug zueinander: In demokratischen Gesellschaften sind Medien sowohl ein Wirtschaftsgut als auch ein Kulturgut, das meritorische Züge trägt, also dem Gemeinwohl ähnlich zuträglich ist wie etwa die Bildung oder die medizinische Versorgung. Speziell die Informationsmedien tragen hohe Verantwortung für den demokratischen Diskurs. Sie sollen die Zivilgesellschaft informiert halten, sodass jeder Einzelne auch aufgeklärt und bewusst sein Wahlrecht wahrnehmen kann. Die meisten europäischen Länder sind demokratisch verfasst, freies und unabhängiges Berichten wird als erstrebenswert anerkannt. Doch die Wirklichkeit sieht häufig anders aus, die Unterschiede auch innerhalb Europas sind groß. Medienfreiheit ist eine fragile Norm – in allen europäischen Ländern.
Normen und ihre Grenzen
Die Pressefreiheit entwickelte sich zunächst in England, wo 1695 das erste Gesetz zur Abschaffung der Zensur verabschiedet wurde, und erreichte dann über die USA, wo sie durch die Amerikanische Revolution zu einem Grundrecht wurde, im Zuge der Französischen Revolution auch das übrige Europa. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 durch die französische Nationalversammlung war zwar ein starkes Signal, aber der Durchbruch der Pressefreiheit auf breiter Ebene folgte erst im 20. Jahrhundert. Die historische Entwicklung verlief jedoch nicht einheitlich: Während einige europäische Länder die Freiheit der Medien schon früh und kontinuierlich garantierten, durchliefen andere Länder faschistische oder kommunistische Phasen, in denen die Medien kontrolliert und gelenkt oder als Propagandainstrumente und Agitatoren benutzt wurden. Durch den Zusammenbruch des Faschismus nach 1945 und nach dem Ende der Sowjetunion 1991 weitete sich der Raum der garantierten Medienfreiheit auf die meisten europäischen Länder aus.
Die EU plus einige weitere europäische Länder bilden heute einen Raum, in dem die Medienfreiheit höchste Standards erreicht. Durch die europäische Perspektive rückt ins Licht, dass nicht nur Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung als gemeinsame europäische Kulturgüter, ja als „typisch europäisch“ angesehen werden können, sondern auch Medienfreiheit und public service, also öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Inzwischen haben viele europäische Länder nach dem Vorbild der britischen BBC einen staatsunabhängigen und gebührenfinanzierten Rundfunk aufgebaut, der im öffentlichen Auftrag auch über Themen aufklärt, die sich im Markt nicht rechnen würden.
Wie jede Freiheit hat auch Pressefreiheit Grenzen. Die Art, wie sie eingeschränkt wird, liefert Rückschlüsse auf die Medien- und Journalismuskultur sowie auf das politische System. In Diktaturen herrscht Zensur als eine Art von Einschränkung, die letztlich die Willkür der Machthabenden schützt. In Demokratien schützen Beschränkungen der Berichterstattung die für den Staat notwendige Geheimsphäre und die für den Einzelnen notwendige Privatsphäre und dämmen so die Willkür von Medien ein.
Media Governance, verstanden als ein System vertikaler Regulierung (nationale, europäische und globale Ebene) sowie horizontaler Regulierung (durch staatliche Regulierung, Co-Regulierung und Branchen-Selbstregulierung wie Presseräte und Kodizes), schützt die Medienfreiheit, sichert Privilegien und definiert Grenzen. (vgl. Manuel Puppis, Einführung in die Medienpolitik, Köln u.a. 20102, S. 59–62) Der Europarat schuf 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Artikel 10 Absatz 1 das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Medienfreiheit garantiert: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“ Die Staaten dürfen aber Genehmigungen für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen vorschreiben. Alle 47 Mitgliedsländer des Europarats haben die Konvention unterschrieben. Neben den 28 EU-Staaten sind das die Länder der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz, ferner die EU-Beitrittskandidaten Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei sowie der potenzielle Kandidat Bosnien und Herzegowina, dazu noch Armenien, Aserbaidschan, Georgien, die Republik Moldau, Russland und die Ukraine.
In Artikel 10 Absatz 2 EMRK wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Meinungs- und Medienfreiheit an Pflichten und Verantwortung gebunden ist. Dazu gehört bei journalistisch Tätigen die sorgfältige Abwägung von öffentlicher Relevanz, bevor sie entscheiden, ob sie Informationen, die eigentlich geheim oder privat sind, öffentlich machen, weil sie einen bedeutsamen Missstand enthüllen. Die verschiedenen europäischen Journalismus-Ethikkodizes bieten einen ethischen Kompass an, der hilft, solche Entscheidungen zu treffen: wann etwa Berichterstattung aus gesellschaftlicher Verantwortung heraus oder auf Rücksicht auf die menschliche Würde eingeschränkt werden sollte. Auch nationale Gesetzgeber und die Rechtsprechung bestärken oder verschieben die Grenzen der Pressefreiheit. Prominente Beispiele aus Deutschland sind die „Spiegel“- und „Cicero“-Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 1966 und 2007, die jeweils eine Stärkung der Pressefreiheit bedeuteten.
Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat in etlichen Ländern und Fällen die Medienfreiheit gestärkt und journalistisch Tätigen ihre Freiheiten gesichert. Die nationalen Behörden der Mitgliedsländer des Europarats sind dazu verpflichtet, die EGMR-Urteile umzusetzen. Ein Beispiel bietet ein Fall aus der Schweiz: Das Schweizerische Bundesgericht verurteilte 2008 vier Journalisten der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, eines Public-service-Anbieters, wegen Verletzung der Privatsphäre durch unbefugtes Mitschneiden von Gesprächen zu Geldstrafen. Daraufhin rief einer der Verurteilten, der damalige Chefredakteur des Fernsehens in der Deutschschweiz, Ueli Haldimann, den EGMR in Straßburg an. Anlass war ein Beitrag in der Konsumentenschutzsendung „Kassensturz“ von 2003, der mit versteckter Kamera Missstände in Beratungsgesprächen mit Versicherungen dokumentiert hatte. Der EGMR gab in seinem Urteil 2015 den Journalisten Recht: Der Beitrag sei von hohem öffentlichen Interesse, das Bundesgerichtsurteil verstoße gegen die Medienfreiheit.
Seismografen der Medienfreiheit
Medienfreiheit braucht ein Netzwerk aus Anwälten und Frühwarnern, die Status und Standards der Pressefreiheit kontinuierlich beobachten, Verschlechterungen und Repression von Journalisten ansprechen und diese rasch auf die Tagesordnung bringen – in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien, in der Öffentlichkeit. Dieses Anliegen verfolgen Journalisten in nationalen und internationalen Verbänden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie Funktionsträger internationaler Organisationen.
Eine dieser Funktionsträgerinnen ist Dunja Mijatović, die Beauftragte für die Freiheit der Medien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in den 57 Mitgliedsländern beharrlich darauf hinweist, wenn die Medienfreiheit nicht ausreichend respektiert wird. Ähnlich agiert Ingrid Deltenre, die Generaldirektorin der European Broadcasting Union (EBU), eines Zusammenschlusses von 73 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens mit Sitz in Genf. Sie ermahnt eindringlich die Regierungen dieser Länder, wenn diese die Unabhängigkeit insbesondere der öffentlich-rechtlichen Rundfunkmedien nicht wahren.
Die NGOs Reporter ohne Grenzen (ROG) und Freedom House (FH) ordnen ihre Einschätzungen zur internationalen Medienfreiheit in Ranglisten: FH aus dem Blickwinkel der weltweiten Entwicklung der Demokratie, ROG aus dem der Meinungs- und Informationsfreiheit sowie der Repression von Journalisten. An ihren Erhebungsmethoden wird zwar zum Beispiel kritisiert, dass sie sich nur auf wenige Experten stützen, die fast alle aus dem westlichen Kulturkreis stammen, und selten Empfehlungen bereithalten, wo Verbesserungen ansetzen könnten. Zudem definieren beide Organisationen den Begriff „Pressefreiheit“ gar nicht, sondern stellen nur ihre Ordnungskategorien vor: FH fragt nach gesetzlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, ROG sortiert in die Kategorien Pluralismus, Medienunabhängigkeit, Selbstzensur, Rechtsrahmen, Transparenz und Infrastruktur. Aber: Beide Rankings ermöglichen kontinuierlich eine international vergleichende Einschätzung und liefern somit verlässliche Hinweise, wo und wie die Medienfreiheit gefährdet ist.
Freedom House stufte im Berichtsjahr 2015 insgesamt 86 der 197 weltweit analysierten Länder als „frei“ ein, 59 als „teilweise frei“, 50 als „nicht frei“. Europa schneidet zwar sehr gut ab – 36 von 42 Länder landen in der Kategorie „frei“, die anderen in „teilweise frei“ –, aber FH konstatiert zugleich einen weltweiten Negativtrend, der Ungarn, Mazedonien, Moldau, Montenegro und den Kosovo besonders stark erfasst habe. Reporter ohne Grenzen stellt in seinem jüngsten Bericht fest, dass sich die 2014 begonnene Erosion der europäischen Vorreiterrolle bei der Pressefreiheit fortgesetzt habe. Die meisten EU-Mitglieder belegen unter den 180 Staaten und Territorien Plätze der Kategorien „gut“ und „zufriedenstellend“, fünf Länder werden in die dritte Kategorie „erkennbare Probleme“ eingestuft. Besser platziert als im Vorjahr sind nur neun Länder. Nochmals verschlechtert hat sich die Lage in Bulgarien, dem Schlusslicht unter den EU-Ländern. Den bei weitem stärksten Einbruch gab es in Polen: um 29 Plätze auf Rang 47.
Eine neue Initiative wurde 2015 in Leipzig gegründet: Das aus EU-Geldern und Stiftungsmitteln finanzierte Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) setzt sich für die Freiheit der Medien gegenüber staatlichen Eingriffen sowie für den freien Zugang von Journalisten und Bürgern zu Informationsquellen ein und hat bereits eine eigene „Europäische Charta für Pressefreiheit“ entwickelt. Das Ziel der Organisation ist es, dass alle EU-Mitglieder und Beitrittsinteressenten die Charta anerkennen und Journalisten in ganz Europa sich bei Konflikten mit staatlichen Stellen auf sie berufen können.
Gefährdungen und Herausforderungen
Die Gefährdungen der Medienfreiheit in Europa sind von Land zu Land unterschiedlich – insgesamt aber lassen sich vor allem drei ausmachen: erstens Druck durch staatliche Übergriffe wie Zensur, Strafverfahren oder Zwangsübernahmen; zweitens wirtschaftlicher Druck etwa durch Medienkonzentration und Werbeboykotte sowie daraus resultierender Lohn- und Zeitdruck; und drittens Druck als Folge von wachsenden Ängsten in der Bevölkerung – hervorgerufen sowohl durch die sogenannte Flüchtlingskrise als auch durch Anschläge internationaler Terrorgruppen. Die Ängste bilden sich auch ab in zunehmender EU-Skepsis und wachsendem Zuspruch für Populisten, die ihrerseits ein pauschales Misstrauen gegenüber den Medien schüren, das sich in enttäuschten Publikumskommentaren und „Lügenpresse“-Geschrei entlädt. Dies wiederum fördert Unsicherheiten und Verzagtheit bei manchen Medien, die sich nicht mehr transparent zu berichten trauen, bis hin zur Selbstzensur.
In Polen hat die nationalkonservative Regierung unter Beata Szydło nach dem Sieg bei der Parlamentswahl 2015 in Windeseile begonnen, ihr Land autokratisch auszurichten. Sie schränkt öffentlich-rechtliche Medien massiv ein und will private Medien „repolonisieren“, sie also von ausländischen Verlegern zurückkaufen. Im Januar 2016 wurde das Führungspersonal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgetauscht, ab sofort entscheidet der Schatzminister der polnischen Regierung über die Personalbesetzung. Kritische Sendungen wurden aus dem Programm genommen. Als nächstes, so kündigte die Regierung an, werde sie die Datenerfassung und die elektronische Überwachung neu regeln.
Ähnlich hat in Ungarn Ministerpräsident Viktor Orbán die Zweidrittelmehrheit seiner Fidesz-Partei im Parlament genutzt, um die ungarische Medienlandschaft in eine weitgehend gleichgeschaltete umzubauen. Im Dezember 2010 bekam das Land ein Mediengesetz, das die staatlichen Kontrollen über öffentlich-rechtliche Medien hinaus auf Privatsender und Internetdienste ausweitete; Journalisten wurden mit Strafandrohungen gegängelt. Die kritische Reaktion der EU-Kommission bewirkte zwar, dass Ungarn während der eigenen EU-Ratspräsidentschaft zeitweilig zurückruderte, aber nur bis zum Ende der Amtszeit im Juli 2011. Den meisten ungarischen Bürgern behagt Orbáns Kurs offenbar, denn seine Partei gewann 2014 erneut die Parlamentswahl.
In Frankreich, Italien und besonders stark in Griechenland erweist sich als problematisch, dass viele Medien Großkonzernen mit Geschäftsinteressen in diversen Branchen gehören. (Vgl. Marlis Prinzing, Showmaster und Sonnenkönig. Journalismus unter Berlusconi und Sarkozy, in: Martin Welker/Andreas Elter/Stephan Weichert, Pressefreiheit ohne Grenzen? Grenzen der Pressefreiheit, Köln 2010, S. 206–230) In Griechenland ist die politische Elite mit mächtigen Wirtschaftszweigen verflochten und kontrolliert die Medien weitreichend; strukturell besteht nahezu keine Medienvielfalt. Die Besitzer von Medienunternehmen sind auch in anderen Branchen einflussreich und nutzen die Medien, um ihre eigenen politischen Ansichten in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Politiker schicken Medien zum Teil Anweisungen, wie sie berichten sollen, Skandale bleiben oft unter dem Deckel. In der Türkei gehen Regierung und Justiz massiv gegen kritische Berichterstattung inländischer und ausländischer Medien vor, stellen Redaktionen bisweilen unter Zwangsverwaltung, verhängen Nachrichtensperren und erhöhen den allgemeinen Druck auf Journalisten durch Verhaftungen und zweifelhafte Urteile.*
In Russland gibt es trotz aller Schikanen nach wie vor unabhängige, oftmals stiftungsfinanzierte Medien wie die Tageszeitung Nowaja Gaseta oder den Radiosender Echo Moskwy. Eine zweite Möglichkeit, andere Sichtweisen anzubieten, schränkt ein Anfang 2016 in Kraft getretenes Gesetz ein, das die Beteiligung ausländischer Medienunternehmen an russischen Medien auf maximal 20 Prozent begrenzt. Bis dahin gab es im Printbereich keine Beschränkung und im Rundfunk eine Höchstbeteiligung von 50 Prozent. Das neue Gesetz könnte einerseits schwächelnden russischen Medienhäusern durchaus nützen, weil sie für sich mehr vom „Werbekuchen“ abschneiden können. Andererseits ist damit ein Einfallstor für unabhängigen Journalismus in Russland zugeschlagen worden. Mit vergleichbaren Regeln schränken übrigens auch Länder wie Frankreich und das Vereinigte Königreich Investitionen ausländischer Medienhäuser ein.
Ralph Büchi, Präsident der internationalen Sparte des Berliner Medienkonzerns Axel Springer, beschreibt die Situation wie folgt: In Polen, Ungarn, Serbien oder der Slowakei könne sein Haus ohne Restriktionen der Regierung agieren, unabhängigen, professionell gemachten Journalismus anbieten und damit auch diesen noch jungen, leicht zu verunsichernden Demokratien helfen. In einem autokratisch agierenden System wie Russland sei das durch das neue Gesetz jedoch nicht mehr möglich. Springer gab in Russland lange Zeit zum Beispiel Geo und das Politikmagazin Forbes heraus, hat nun aber alle Anteile an einen russischen Unternehmer verkauft. Dieser kündigte schon kurz darauf an, dass er Geo einstellen und Forbes von einem politischen auf einen wirtschaftlichen Kurs bringen werde.
Nagelprobe Informantenschutz
Auch in Deutschland kam Medienfreiheit 2015 aus verschiedenen Richtungen in Bedrängnis. So gab es nicht nur einen Anstieg direkter, zum Teil auch gewalttätiger Übergriffe auf Journalisten, etwa bei Demonstrationen der Pegida-Bewegung. Auch gesetzliche Neuregelungen wie das Gesetz zur anlasslosen befristeten Vorratsdatenspeicherung von Telefon-, Mobil- und Internetverbindungsdaten erschweren – trotz Sonderregeln für Journalisten – den Schutz von Informanten und damit die investigative Recherche. Wegen des Verdachts des Landesverrats gab es im Juli 2015 gar Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen die Betreiber des Blogs Netzpolitik.org, Markus Beckedahl und Andre Meister, und ihren Informanten. Die Journalisten hatten über den geheimen Ausbau der Internetüberwachung durch den Verfassungsschutz berichtet und als vertraulich eingestufte Dokumente veröffentlicht. Zwar wurden die Ermittlungen gegen Beckedahl und Meister nach öffentlichen Protesten eingestellt, nicht aber jene gegen den Informanten.
Inwiefern und ob Informanten und Whistleblower künftig mehr Schutz benötigen, ist europaweit ein kontrovers diskutiertes Thema. Denn ob ein ausreichender Schutz von Informanten erwünscht ist oder nicht, hängt von der Perspektive ab: Whistleblower durch Gesetze besser zu schützen, bedeutet mittelbar, dass auf der einen Seite Fehlverhalten staatlicher Institutionen leichter öffentlich gemacht werden kann (was in der Regel nicht im Interesse dieser Institutionen liegt) und auf der anderen Seite auch Steuerbetrugsfälle leichter aufgedeckt werden können, durch die dem Fiskus sonst viel Geld verloren ginge (was durchaus im Interesse der Finanzbehörden liegt). Informantenschutz ist zudem eine Frage der Professionalität: Versierte Journalisten wissen, wie sie auch im Digitalen Recherchespuren verwischen und ihre Informanten schützen.
Die NGO Transparency International bescheinigte den EU-Mitgliedern 2013 im internationalen Vergleich Rückständigkeit: In Deutschland und 15 weiteren Ländern gebe es eingeschränkt Whistleblowerschutz, in sieben Ländern so gut wie keinen und nur in Großbritannien, Slowenien, Rumänien sowie Luxemburg relativ weitreichenden Schutz. (Vgl. Transparency International, Whistleblowing in Europe. Legal Protections for Whistleblowers in the EU, Berlin 2013. Siehe auch die Website des Whistleblower Netzwerk). Wie groß die Schutzlücken jedoch sind, zeigte etwa der Prozess um die sogenannten LuxLeaks, der im Juni 2016 mit einer Verurteilung der beiden Whistleblower endete. Diese hatten Steuerdeals internationaler Konzerne mit den Luxemburger Finanzbehörden offengelegt und Unterlagen, die diese belegen, weitergegeben; beide haben Berufung eingelegt und wollen gegebenenfalls bis vor den EGMR ziehen. Die EU erkennt Whistleblowing zwar als Weg an, um Korruption zu bekämpfen, hat aber nur in einzelnen Bereichen Vorschriften, die Beschwerderechte regeln, und keinen wirksamen rechtlichen Schutz, auf den sich Whistleblower berufen können.
Eine im April 2016 verabschiedete EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen illustriert nochmals die Ambivalenz des Themas. Sie soll Unternehmen helfen, ihre Innovationen vor dem Zugriff von Wettbewerbern zu schützen. Diese Richtlinie kann aber gerade für jene, die Korruption und Missstände melden, problematisch werden, weil sie letztlich den Unternehmen überlässt, was diese als Geschäftsgeheimnis definieren. Nationale Regeln können die Lage dieser Whistleblower weiter verschärfen: In Deutschland verpflichten sich Arbeitnehmer in der Regel auf Treue und Loyalität ihrem Arbeitgeber gegenüber und riskieren auch ihre berufliche Existenz, wenn sie Informationen weitergeben (was dann wiederum gerechtfertigt ist, wenn jemand etwas nicht Zutreffendes oder Interna ohne Relevanz für die Öffentlichkeit weitergibt).
Im Umgang mit Whistleblowing spiegelt sich auch der Grad der Freiheit der Berichterstattung wider – gerichtet nach außen und nach innen. Und dies führt zur sogenannten inneren Pressefreiheit. Sie fragt nach der inhaltlichen Unabhängigkeit der Journalisten gegenüber Herausgebern, Verlegern und Medienmanagern und wird heute überwiegend aus der ökonomischen Perspektive diskutiert. Doch spielen bei der Nachrichtenauswahl bisweilen nicht nur Anzeigenkunden, sondern auch politische und wirtschaftliche Interessen der Verlagsleitung oder der Chefredaktion eine Rolle. Neue Formen digitaler Werbung wie das native advertising, bei dem Werbung als journalistisch wirkende Geschichte verpackt ist, werfen weitere Fragen nach der journalistischen Unabhängigkeit und der Medienethik auf – nicht ohne Grund empfehlen Pressekodizes eine klare Trennung von Redaktion und Anzeigenabteilung.
Journalismus besser schützen
Der Medienfreiheit in Europa bläst derzeit aus verschiedenen Richtungen viel Wind entgegen. Die Seismografen der Journalistenverbände und NGOs, die sich dem Schutz der Pressefreiheit verschrieben haben, sind unablässig gefordert, die Kräfte wider die Medienunabhängigkeit in Schach zu halten, indem sie gegenüber der Politik und in der Öffentlichkeit beharrlich darauf hinweisen, wenn die Unabhängigkeit von Journalistinnen und Journalisten und der Medien insgesamt durch direkte und indirekte Einschränkungen gefährdet ist. Denn Medienfreiheit ist für eine funktionierende Demokratie unerlässlich. Sie sollte aber nicht nur verteidigt, sondern auch an die gewandelten Bedingungen der digitalen Mediengesellschaft angepasst werden.
Für die weitere Entwicklung ergeben sich daraus drei Postulate: Erstens bedarf es vermehrter Anstrengungen zur Förderung der allgemeinen Medienkompetenz – verstanden als Wissen zu Nutzung und Bedeutung von Medien –, auch um Gefährdungen für die Medienfreiheit frühzeitig wahrnehmen zu können. Zweitens braucht es mehr Medienjournalismus, auch als kritische Beobachtung von Erosionen der Medienfreiheit. Und drittens brauchen Journalisten bessere Schutzrechte: „Journalist“ sollte ein geschützter Beruf werden, zumindest für bestimmte Spielarten wie Datenjournalismus oder investigativer Journalismus. Sonderregeln müssen verhindern, dass die digitale Überwachung die journalistische Recherche in Fesseln legt, und zwar europaweit. Hier auch eine europäische Perspektive einzunehmen, trägt zudem dem Bewusstsein Rechnung, dass Medienfreiheit gegenwärtig und hoffentlich nur vorübergehend erodiert, aber zu den identitätsstiftenden Normen in Europa gehört.
Erstveröffentlichung: dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht (by-nc-nd/3.0/de/) und wurde für das EJO mit Einverständnis der Autorin leicht modifiziert.
*Der folgende EJO-Artikel thematisiert die Folgen des Putsches für die Entwicklung der Pressefreiheit in der Türkei:
Pressefreiheit in der Türkei: Bedroht wie nie zuvor
Bildquelle: Stefanie Eisenschenk / Flickr Cc: Reporter ohne Grenzen; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/
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